Die zehn Aussätzigen
11 Und es begab sich, als er nach Jerusalem wanderte, dass er durch
Samarien und Galiläa hin zog.
12 Und als er in ein Dorf kam, begegneten ihm zehn
aussätzige Männer; die standen von ferne
13 und erhoben ihre Stimme und sprachen: Jesus, lieber
Meister, erbarme dich unser!
14 Und als er sie sah, sprach er zu ihnen: Geht hin und
zeigt euch den Priestern! Und es geschah, als sie hingingen, da wurden sie
rein.
15 Einer aber unter ihnen, als er sah, dass er gesund
geworden war, kehrte er um und pries Gott mit lauter Stimme
16 und fiel nieder auf sein Angesicht zu Jesu Füßen und
dankte ihm. Und das war ein Samariter.
17 Jesus aber antwortete und sprach: Sind nicht die zehn
rein geworden? Wo sind aber die neun?
18 Hat sich sonst keiner gefunden, der wieder umkehrte, um
Gott die Ehre zu geben, als nur dieser Fremde?
19 Und er sprach zu ihm: Steh auf, geh hin; dein Glaube hat
dir geholfen!
Liebe Gemeinde, liebe Gäste hier auf dem Marktplatz!
Von der Dankbarkeit ist heute die Rede. Das bietet sich bei
einem Stadtjubiläum doch sehr an! Wir können sehr dankbar sein für die
Entwicklung, die die Region in den 50 Jahren genommen hat. Baunatal ist, wie es
immer so schön im offiziellen Deutsch heißt, eine blühende Region. Wir können
dankbar sein dafür, dass in diesen 50 Jahren eigentlich alles nur besser
geworden ist. Und das sage ich mit vollem Bewusstsein auch angesichts der
Tatsache, dass es natürlich immer noch etwas zu verbessern gibt – Krisen gibt
es immer!
Warum ich das so ausdrücklich betone?
Mit der Dankbarkeit hat es so eine besondere Bewandtnis. Sie
fällt uns durchaus schwer. Und man kann sie nicht verordnen, wie man ja auch
die Freude nicht verordnen kann. Davon erzählt die Geschichte von der Heilung
der 10 Aussätzigen. Sie ist ja sehr klar: 10 Leprakranke werden von Jesus gesund
gemacht. Sie gehen zum Tempel, zeigen sich dem Priester, und der spricht sie
gesund. Aber nur einer, noch dazu einer von den Samaritanern, die als Angehörige
einer Sekte galten, kehrt zu Jesus zurück und bedankt sich. Er bekommt von Jesus
freilich eine merkwürdige Antwort: Dein Glaube hat dir geholfen! Wobei hat er
ihm geholfen? Gesund geworden sind doch alle! Gesund, ja, aber eben nicht
geheilt!
Denn der Glaube hilft uns dankbar zu sein, und dankbar sein
gehört zu einen geheilten Leben. Denn Undank zerfrisst unsere Seelen. Die
einen, die zu danken vergessen, haben ein schlechtes Gewissen; die anderen, die
den Dank nicht bekommen, den sie verdienen, fühlen sich gekränkt und verletzt.
Der Undank ist eine Quelle von viel Gift und Streit.
Dankbarkeit aber fällt uns schwer.
Weil wir Angst haben, dass uns die Dankbarkeit verpflichtet.
Wenn wir einem Menschen zu Dank verpflichtet sind, dann haben wir das Gefühl,
von ihm abhängig zu sein. Und das haben wir nicht so gerne, vor allem nicht wir
modernen Menschen, denen ihre Freiheit über alles geht. Aber sind wir frei,
wenn wir zu danken vergessen?
Und der andere Grund, warum es uns schwer fällt, dankbar zu
sein: Wir müssen uns erinnern. Dankbarkeit lebt von Erinnerung! Und zwar von
einer doppelten Erinnerung: zum einen daran, wie schlecht es uns ging oder in
welchen Schwierigkeiten wir waren, zum anderen aber auch an die Wohltat, die
uns erwiesen wurde.
Was auch typisch ist für uns Menschen: wir erinnern uns lange
- und oft ein Leben lang - an Verletzungen und Kränkungen, die uns
zugefügt worden sind. Aber Wohltaten vergessen wir sehr schnell. Wir neigen ferner
dazu, das Gute, das uns zugefügt wird, als selbstverständlich zu nehmen! Das
ist kein schöner Zug an uns Menschen! Und wir alle wissen, wie sehr genau das
unser Klima im Miteinander vergiften kann!
Ich glaube, das ist eines unser größten Probleme im Moment.
Wir haben ja in Deutschland eine ziemlich angespannte Stimmung, ausgelöst durch
die vielen Menschen, die bei uns Zuflucht suchen, aber die Stimmung war vorher
schon gereizt. Der Grund dafür ist die Sorge, dass vieles von dem, was wir
erreicht haben, nicht mehr so weiterbestehen wird, wie bisher. Diese Sicht der
Dinge ist durchaus berechtigt, die Welt verändert sich unglaublich schnell –
die Frage ist, ob wir uns deswegen Sorgen machen müssen, oder ob wir nicht
lieber sagen müssen: Okay, alles ändert sich, wir müssen uns auch ändern, wenn
wir wollen, dass es uns auch weiterhin gut geht. Das hat doch vor fünfzig Jahren
in Baunatal auch geklappt! Denn das ist doch, was die Väter und Mütter damals
erkannten: Wer nicht auf Kooperation setzt, geht in der modernen Welt unter!
Nur gemeinsam können wir die komplizierten Aufgaben bewältigen, die uns die
moderne Gesellschaft stellt: Weil wir doch ein Maximum an Gerechtigkeit haben
wollen – darum ist die Welt kompliziert. Ungerechte Verhältnisse sind nämlich
immer einfach! Und die einfachen Verhältnisse sind übrigens meistens auch
ungerecht! Das Komplizierte ist der Preis für den Wohlstand der Vielen.
Und jetzt kommt die Erinnerung ins Spiel: Wir klagen auf
sehr hohem Niveau! Es ging uns nie so gut wie heute, aufs Ganze gesehen. Immer
wenn mir jemand mit der Klage im Ohr liegt, früher sei doch alles besser
gewesen, dann frage ich gerne zurück: Meinen Sie die Zeit vor der Entdeckung
des Penicillins und des Insulins? Meinen Sie die Zeit vor der Erfindung der
Waschmaschine oder des Staubsaugers? Meinen Sie die Zeit vor Einführung der
Demokratie und der Steuergerechtigkeit? Und, ganz konkret: Meinen Sie die Zeit,
als hier in Baunatal noch ein paar mehr oder weniger kleine Dörfer ohne gut
ausgebaute Infrastruktur existierten? Wir haben, gerade hier in Baunatal,
wahrhaftig Grund zur Dankbarkeit. Es hat sich vieles verbessert, und wir leben
hier auf einem Standard, von dem andere – übrigens sogar andere in Deutschland,
da muss man gar nicht weit fahren – nur träumen können. Ganz zu schweigen von
unseren Vorfahren, mit denen ich nicht einen Tag tauschen möchte. Man denke nur
an die 70 Jahre Frieden, in denen diese 50 Jahre eingebettet sind!
Ich bin mir klar, dass jetzt bei vielen hier ein deutliches
„Aber“ zu hören sein wird. Ich spüre es auch! Natürlich liegt vieles im Argen.
Natürlich hat sich unser Leben nicht nur zum Besseren geändert. Ja, man wird
sogar sagen müssen: Gerade, wenn wir dankbar zurückblicken auf das, was sich
verbessert hat, können wir um so klarer, nüchterner und ohne Geschrei auf das
schauen, was noch zu erledigen ist und was wirklich im Argen liegt – und auch
trauern um das, was wir verloren haben. Denn nur so werden wir frei, auch wirklich
zu feiern: Wenn wir dankbar auf das Erreichte blicken. Das ist der Quell der
Freude, das Heilmittel gegen den Groll und die Lähmung.
Das kann man nicht verordnen, da kann ich hier lange
predigen. Aber Dankbarkeit kann man üben.
Und dazu gehört es eben auch, sich zu erinnern und zu erzählen, wie es war. Es
leben noch genug Augenzeugen!
Und jetzt kommt der rätselhafte Satz ins Spiel, den Jesus zu
dem einen sagt, der zurückgekommen ist. „Dein Glaube hat dir geholfen“ Wobei
eigentlich? Der Glaube half dem Mann, sich dankbar zu erinnern an den Segen,
den er empfangen hat.
Menschen können viel, aber Segen braucht es auch! Und den
Mut, die Gelegenheit zu ergreifen, den günstigen Zeitpunkt zu nutzen und die
Zeichen der Zeit zu erkennen. So, wie es hier vor 50 Jahren geschah! Sich regen
bringt Segen – nicht weil es den Segen macht, sondern weil es den Segen ergreift
und in unser Leben holt! Sich daran zu erinnern: das ist der Weg zu einem guten
und heilsamen Miteinander.
Dazu will uns der Glauben, dazu will uns Jesus führen, indem
er uns an die Dankbarkeit erinnert. Und so können wir als wir als Christen
einen wichtigen Beitrag leisten zum Zusammenleben, zur Integration und zur Weiterentwicklung
dieser Stadt! „Suchet der Stadt Bestes“, schreibt der Prophet Jeremia an das
Volk Israel, das in einer fremden Stadt im Exil leben muss, Und Paulus
schreibt: Seid der Obrigkeit untertan – ein viel missbrauchter Satz. Doch wer
ist die Obrigkeit in einer Demokratie, wenn nicht das Volk selber? Wir, die
Bürger und Bürgerinnen sind der Souverän, und das, meine Lieben, halte ich für
den allergrößten Fortschritt überhaupt, an dessen Umsetzung wir weiterarbeiten
müssen mit aller Kraft! Was ich hier sage, hat nichts zu tun mit der alten,
elenden Vermischung von Thron und Alter, wie man früher sagte, sondern ist eine
Ermutigung zum Bürgergeist, der Christen gut ansteht, weil wir dem Wohl des
Nächsten verpflichtet sind! Wir dürfen nicht in einer Nische frömmelnder Vereinsmeirei
hocken, sondern genau das tun, was wir gerade tun: raus auf den Marktplatz! Wir
werden eine Minderheit: Das sollte uns gerade Ansporn sein, unseren Glauben zum
Segen aller zu leben und nicht nur für uns selbst! Jesus hat alle 10 geheilt!
Ohne Wenn und Aber!
50 Jahre Baunatal: Wir können dankbar sein dafür, dass sich
vor 50 Jahren Menschen dafür eingesetzt haben, etwas für die Zukunft zu tun.
Das war nicht leicht. In den zwei Jahren, die ich hier Pfarrer war, habe ich
viele Geschichten davon gehört, wie mühsam das war. Es gab viele Ängste und
Bedenken, viele Einwände und Abers, viele Verletzungen, und auch unterwegs ging
es nicht ohne Enttäuschungen, Abschiede und Rückschlage voran. Doch vieles
davon, und auch daraus sollten wir lernen, ist im Rückblick kaum noch
nachvollziehbar und wirkt kleinlich oder ängstlich. Wir können, ganz konkret,
dankbar dafür sein, dass mit dem VW-Werk hier Wohlstand und Vollbeschäftigung ankamen
und damit ein ungeahnter Entwicklungsschub. Aber das doch nur, weil Menschen
diese Gelegenheit, diesen Segen, ergriffen haben!
Menschen, die ja noch den Krieg und die furchtbaren Verhältnisse
von Nazi-Zeit und Weimarer Republik erlebt haben, ja sogar die schiere Armut,
wollten eine bessere Welt und sie schufen etwas bisher sehr Stabiles und Dauerhaftes.
Das nötigt mir schon Bewunderung und auch Dankbarkeit ab, gerade weil ich nach
vier Jahren hier immer noch ein Zugereister und quasi ein Fremder bin! Ich lebe
gerne hier. Und ich bin übrigens auch sehr dankbar, wie gut hier mit all denen
umgegangen wird, die hier nicht geboren sind: Es geht eben doch! Und zwar zum
Wohle aller!
Und darum sage ich hier ein deutliches Danke an alle, die
sich in den 50 Jahren und auch jetzt und in Zukunft für dieses Gemeinwesen einsetzen.
Habt keine Angst vor Veränderungen, es hat vor 50 Jahren, allen Bedenken zum
Trotz, in Baunatal doch gut geklappt! Lasst uns diesen Weg weitergehen! Lasst
uns Gerechtigkeit und Gastfreundfreundschaft üben, denn dann kommen wir uns als
Menschen nahe.
Lasst und aus einem Geist der Dankbarkeit und der Freude
über das Erreichte kritisch, aber solidarisch und wertschätzend im Umgang
miteinander weiterbauen an dem, was vor 50 Jahren begonnen wurde. Lasst den
Geist der Undankbarkeit, des Genörgels und der uninformierten Rechthaberei
nicht den Sieg davontragen! Unterstützt die, die bereit sind, Verantwortung zu
übernehmen, begleitet sie mit kritischem Wohlwollen und Eurem Gebet! Streitet
um den rechten Weg, aber zankt nicht! Und vor allem: Ermuntert einander,
mitzutun! Ja, ich möchte es noch konkreter sagen mit alten Wahlspruch des
amerikanischen Präsidenten John F. Kennedy, einem gläubigen Katholiken
übrigens, der einmal sagte: Frage nicht, was deine Stadt für dich tun kann,
frage, was Du für Deine Stadt tun kannst! Und da gibt es immer etwas. Alles
zählt, was zum Gelingen beiträgt!
So beten wir Christen nicht nur heute und hier, sondern
immer, wenn wir uns versammeln: Wir beten um den Segen und geben ihn weiter!
Das ist unser Beitrag und unsere Aufgabe. Darum feiern wir heute und hier
Gottesdienst zum Geburtstag der Stadt: Als Zeichen der Dankbarkeit, auch für
lange Jahre guter Zusammenarbeit und gelingender Ökumene und gelassenem
Miteinander von Glaubenden und Nichtglaubenden, von Religionen und Weltanschauungen,
von Lebensstilen und Lebensformen! Und wir laden alle ein, denen Gott etwas
bedeutet, wie immer sie ihn anrufen, in dieses Gebet einzustimmen, wir sind ja
nicht die einzigen, die beten. Und die, denen der Glaube fremd ist, laden wir
ein, in den Geist der Dankbarkeit mit einzustimmen, denn wir sind ja nun
wahrhaftig nicht die Einzigen, denen die Stadt am Herzen liegt!
Dann wird dieses Fest gelingen, dann wird dieses Gemeinwesen
blühen, dann werden wir Menschen in dieser Stadt einander als Menschen begegnen.
Das ist immer noch das größte Glück! Dazu helfe uns Gott mit seinem Segen.
Herzlichen Glückwunsch, Baunatal, Amen.
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