Montag, 31. Oktober 2016

39 Thesen über die Grundlagen und Regeln einer christlichen Ethik

Das überraschende Ergebnis einer intensiven Diskussion mit meiner damaligen (2008) 10. Klasse (!) über einen Ausschnitt aus dem "Sermon von den guten Werken" zum siebten Gebot am 31. Oktober. Anlaß: die Bankenkrise! Eine Stunde des Verstehens für alle Beteiligten, wie wir sie selten hatten. Meine Hommage an den Reformationstag 2016. Ich bin gerade mal ein halber Luther....;).
 
 
39 Thesen über die Grundlagen und Regeln einer christlicher Ethik[1]

  1. Die Ethik des christlichen Glaubens fragt nach dem Willen Gottes als Grundlage menschlicher Handlungen. Darin ist sie eine religiöse Ethik (sola fide).
  2. Der Wille Gottes ist offenbart im „Worte Gottes“, gesprochen durch die Propheten („Altes Testament“) und die Apostel („Neues Testament“), also in der Heiligen Schrift und ausgelegt, tradiert und immer wieder neu interpretiert durch die Gemeinschaft der Heiligen, der recht verstandenen Kirche. Die Heilige Schrift ist also die Quelle der Ethik (sola scriptura).
  3. Eine christliche Ethik ist christlich dadurch, dass sie sich an Jesus Christus orientiert, in dem und durch den Gott zum Menschen in einer Haltung des absoluten Wohlwollens spricht. Auf ihn weisen die „Propheten“ hin, von ihm kommen die „Apostel“ her (solus christus).
  4. Grundlage aller christlicher Ethik ist also eine Kommunikation Gottes mit dem Menschen. Gott durchbricht von sich aus in einem Akt der freien Gnade das Schweigen, das durch die Sünde (die Gottesferne) des Menschen entstanden ist. Er beendet die Gottlosigkeit, in der sich jeder Mensch vorfindet und in der er sich wahrnimmt (sola gratia).
  5. Gott will, so schon die Propheten des Alten Testamentes, nicht den Tod des Sünders (des Gottlosen), sondern dass er lebt (Hes 18,23). Gott verachtet die Sünde, aber nicht den Sünder und die Sünderin. Und er will nicht nur, dass der Mensch lebt, sondern dass er gut lebt.
  6. Ein gutes Leben ist ein Leben in der Hoffnung, das bedeutet ein Leben ohne Angst (1. Joh 4,17).
  7. Ein Leben ohne Angst ist ein Leben in Freiheit (Gal 5,1).
  8. Die zentrale Tat Gottes ist daher die Befreiung des Menschen aus der Angst vor Strafe und vor den negativen Folgen seiner Handlungen (Rom 8,28).
  9. Glaube ist das feste Vertrauen darauf, dass genau das Gottes Willen ist
    (Heb 1,11).[2]
  10. Die höchste Form der Freiheit ist nach christlichem Verständnis die Liebe, die nichts anderes will, als ein gutes Leben des Anderen, dem wir durch unsere Zuwendung zum Nächsten werden (Lk 10,25ff).
  11. Christliche Liebe ist kein Gefühl, sondern eine Haltung gegenüber sich selber, gegenüber Gott und gegenüber dem Nächsten. Es ist die Haltung maximalen Wohlwollens.
  12. Die Form der von Gott gewollten christlichen Nächstenliebe ist folglich der Dienst. Die höchste Form des Dienstes ist die, die aus Einsicht und Selbstbestimmung, also aus Freiheit geschieht. Ein wahrer Diener ist kein Knecht, sondern ein Herr und Haushalter (1. Petr. 4,10).
  13. Diese Freiheit hat der glaubende Mensch, weil er sein Handeln nicht an der Frage nach Lohn und Straf bzw. Erfolg und Misserfolg ausrichten muss, sondern sich einzig an der Frage der Angemessenheit und der Richtigkeit der Entscheidung für den Nächsten orientieren darf. Das Gute wird gesucht und getan, weil es das Gute ist, das dem Nächsten zu Gute kommt.
  14. Das Gute aber ist strittig. Gute Handlungen verstehen sich nicht von selbst. Das ist eine Folge der Gottesferne des Menschen (Röm 7, 7ff). Wir wissen eben nicht, was wir tun sollen.
  15. Um die richtige Handlung zu erkennen, zu begründen und zu gestalten, hat Jesus mit den Menschen folgendes „moralisches Kalkül[3] gelehrt, ausgeübt und eingeübt: Grenzbeschreibung – Regel – Prinzip.
  16. Grundlage der Frage nach der richtigen Handlung ist der Katalog der 10 Gebote. Sie beschreiben die absoluten Grenzen menschlichen Handelns, deren Folgen zerstörerisch sind. Darum sind sie als Negativliste formuliert (mit zwei bedeutungsvollen Ausnahmen!). Die 10 Gebote beschreiben die absoluten „No-Gos“ menschlichen Handelns. Sie sind die Grenzbeschreibung.
  17. Sie können daher nicht direkt als Grundlage der Frage nach dem richtigen Handeln dienen. Sie müssen interpretiert werden. Die 10 Gebote allein können keine hinreichende Grundlage einer Ethik sein[4].
  18. Vielmehr muss aus ihnen eine Handlungsanweisung jeweils abgeleitet werden (das „Gute Werk“, das zu jedem Gebot gehört). Das „Gute Werk“ eines jeden Gebotes erhält man durch die Umkehrung des im Gebot Verbotenen. (Diebstahl – Freigiebigkeit, Sexuelle Freizügigkeit – Treue; Lüge - Aufrichtigkeit etc.). Aber auch diese Bestimmungen beschreiben noch nicht Handlungen, sondern Haltungen („Tugenden“), aus denen Handlungen hervorgehen.
  19. Die 10 Gebote müssen ergänzt werden durch eine Regel, mit deren Hilfe die richtige Handlung von Situation zu Situation aufgespürt werden kann und durch ein Prinzip, das die Anwendung dieser Regel steuert.
  20. Diese Regel und das Prinzip ihrer Anwendung führt Jesus in der Bergpredigt vor. Sie sind in allen seinen Taten und Reden wiederzufinden.
  21. Die Regel ist die sog. „goldene Regel“: „Alles nun, was ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, das tut ihnen auch!“(Mt 7,12)[5]
  22. Dabei muss aber vorausgesetzt werden, dass der eigene Wille auch sich selbst gegenüber von absolutem Wohlwollen geprägt ist (um das „Masochisten-Paradox“ zu verhindern: Wer sich selber hasst und bestraft werden möchte….usw.).
  23. Darum muss das Prinzip der Liebe (absolutes Wohlwollen) dazukommen, die Jesus dreistellig beschreibt:
  24. Mt 22, 37ff: »Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüt« (5. Mose 6,5). Dies ist das höchste und größte Gebot. Das andere aber ist dem gleich: »Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst« (3. Mose 19,18). Diese Liebe ist möglich, weil Gott uns zuerst liebt (1. Joh 4,10).
  25. Christliches Handeln folgt darum nicht dem „Gesetz“ als einem Katalog von konkreten Handlungsanweisungen. Diese sind immer kultur- und situationsabhängig und können nicht verallgemeinert werden. Das gilt auch für die Sammlung hebräischer Gesetze, die uns als „Altes Testament“ begegnen und für die Sammlungen christlicher Lebensregeln der Kirche des ersten Jahrhunderts, die im Neuen Testament erscheinen.
  26. Christliches Handeln steht solchen Gesetzeskatalogen eher kritisch gegenüber, weil sie dazu neigen, die Freiheit des Menschen so zu beschneiden, dass er nicht mehr aus Liebe dient, sondern aus Frucht gehorcht. Sie können falsch sein und selber üble Handlungen hervorbringen[6].
  27. Christliches Handeln aus freier Liebe orientiert sich am Bedürfnis des Nächsten.[7]
  28. Voraussetzung dafür ist die angstfreie Kommunikation über Bedürfnisse.
  29. Eine christliche Gesellschaft ist von der Hoffnung und der Vision getragen, dass es möglich sein muss, Räume und Zeiten angstfreier Kommunikation so zu schaffen, dass man den individuellen Menschen gerecht werden kann. Darum sind das Gebot der Feiertagsheiligung und des Generationenvertrages positiv formuliert[8].
  30. Eine recht verstandene Kirche, als die sichtbare Gestalt Jesu[9] und von seinem Geist erfüllt, hat die Aufgabe, am Aufbau, dem Erhalt und der permanenten Gestaltung der Gesellschaft aktiv, kritisch, solidarisch und begleitend teilzunehmen.
  31. Der politische Grundbegriff, der sich aus dem Gesagten ergibt, ist der der „Würde“.
  32. Die Würde des Individuums ergibt sich aus christlicher Sicht einzig daraus, dass jeder Mensch ein von Gott geliebtes Geschöpf ist: Er ist das von Gott gewürdigte Geschöpf.
  33. Die Würde des Menschen ergibt sich folglich nicht aus seinen Handlungen, seinen Leistungen, seiner äußeren Erscheinung, seiner Gruppenzugehörigkeit oder anderen „irdischen Qualitäten“. Jeder Versuch, Menschen und ihre Handlungen zu messen und nach ihrem Wert zu fragen, muss von einer christlichen Ethik zutiefst abgelehnt werden[10].
  34. Die Quelle des absoluten Wohlwollens ist Gott. Glaube ist Vertrauen genau darauf. Aus dem Glauben quillt die Hoffnung, dass Gott auch unser Misslingen und Scheitern, unsere Schwäche und unsere Gier nicht nur erträgt, sondern schöpferisch gestaltet. Das Symbol dafür, dass Gott selbst aus absolut Bösem und sinnlos vom Menschen angerichtetem Leiden noch Gutes schaffen kann, sind Kreuz und Auferstehung des Jesus von Nazareth. Indem Gott dieses absolute Böse (Sünde) mit Gutem (Gnade) überwindet, macht er uns kund, dass er das Böse nicht will und dass ein Mensch, der sich als Mensch recht versteht, dies auch nicht wollen kann, weil er sonst seine eigene Vernichtung wollen würde.
  35. Wer aus Angst vor Scheitern nicht handelt, ist schon gescheitert[11]. Wer aus Liebe handelt, kann nicht scheitern. Der Anfang der Liebe aber ist, dass Gott uns liebt.
  36. Wer das verstanden hat, weiß, was er zu tun hat.
  37. Wenn er es nicht weiß, weiß er, wen er zu fragen hat. Christliche Ethik ist immer die Ethik einer glaubenden, hoffenden und liebenden Gemeinschaft, die das Wort Gottes hört, oder sie ist keine christliche Ethik. Eine „christliche Individualethik“ („Das muss jeder für sich selbst entscheiden“) ist ein Selbstwiderspruch.
  38. Luther spitzt paradox zu: "Sei ein Sünder und sündige kräftig, aber vertraue noch stärker und freue dich in Christus, welcher der Sieger ist über die Sünde, den Tod und die Welt!“ Noch radikaler kann er sagen: „Wir Christen machen daher neue Dekaloge, wie es Paulus durch alle seine Briefe tut, und auch Petrus, am deutlichsten aber Christus im Evangelium“[12].
  39. Augustinus fasst diesen scheinbar komplizierten Zusammenhang in dem simplen Satz zusammen: „Liebe, und tue, was du willst“ (dilige, et fac, quod vis)[13].

 

 

 

 

 

Roland Kupski, Albungen, 19.11. 2008.




[1]  „Ethik“ meint: Die Lehre von den menschlichen Handlungen, insofern sie Ausdruck eines Willens sind (also kein Instinkt, Reflex oder fremdbestimmt). Speziell meint „Ethik“ die Lehre von den richtigen Handlungen und deren vernünftige Begründung. „Moral“ meint eine tradierte Sammlung von Bräuchen, Regeln und Meinungen über gute Handlungen, die in der Regel nicht begründet sind, sondern als fraglos gültig angesehen werden.
[2] Denn was sieht man? Ungnade in der Kultur, Gnadenlosigkeit in der Natur. Wie soll sich daraus eine Moral ableiten lassen? Das Argument von der Unsichtbarkeit des Hoffnungsgrundes ist so banal nicht, wie es aussieht.
[3] „Unter einem Kalkül (fr. calcul „Rechnung“; von lat. calculusRechenstein“, „Spielstein“) versteht man in den formalen Wissenschaften wie Logik und Mathematik ein System von Regeln, mit denen sich aus gegebenen Grundfiguren weitere Figuren herstellen und umformen lassen“. (http://de.wikipedia.org/wiki/Kalk%C3%BCl). Das zeigt noch einmal deutlich, dass eine christliche Ethik zwar auf dem Erbarmen beruht (sowohl das, das man erfährt als auch das, was  man empfindet), aber ihre Handlungen trotzdem vernünftig entwickelt und verantwortet. Sie handelt nicht „aus dem Bauch“ heraus, denn der „Bauch“ ist der Sitz des Begehrens. In der Bibel ist das Organ der vernünftigen Entscheidung das Herz. Das darf nicht im Sinne des romantischen Begriffes des Herzens als des Sitzes der Emotionen fehlverstanden werden. Hier liegt eine Quelle vieler fataler Missverständnisse. Ähnliches gilt für den Begriff des Gewissens, das bei Paulus nichts anderes ist als eine Art vorbewusste Instanz der Selbstwahrnehmung. Niemals aber, wie es in der Aufklärung missverstanden wurde, ist das Gewissen der Ort der Stimme Gottes oder gar der Sitz eines natürlichen Gesetzes. Die  Stimme Gottes hört das Gewissen ja gerade nicht, wenn es uns verklagt (1 Joh 19ff, hier Herz=Gewissen!), das natürliche Gesetz, wenn es denn überhaupt eines gibt, ist durch die Sünde unerkennbar geworden (Röm 1,18ff).
[4] Darum spitzt Jesus die 10 Gebote in den sog. „Antithesen der Bergpredigt“ (Mt 5,17.48), aber auch in Gleichnissen (Mt 19, 16 - 26) und Streitgesprächen (Mt 12, 1-14; 15,1-20; 19,1-12) bis an die Grenze der Unerträglichkeit zu. Sie taugen nicht zum Moralisieren. Sie taugen einzig dazu, Grenzen zu beschreiben. Je radikaler sie das tun, umso radikaler stellt sich die Frage nach dem Guten.
[5] Sie ist positiv formuliert, fordert also auf, nach Handlungsmöglichkeiten zu suchen. Das deutsche Sprichwort, das gerne als vermeintliches Äquivalent dazu angeführt wird, beschreibt hingegen eine reine Vermeidungsformel: „Was du nicht willst, was man dir tu, das füg auch keinem andren zu“. Das ist noch nichteinmal ein ethischer Minimalstandard. 
[6] So ist ja der Tod Jesu durch Anwendung des Gesetzes Gottes auf ihn begründet. Er ist nach geltendem Recht (der pharisäischen Interpretation der Thora) rechtmäßig hingerichtet worden. Das erklärt die Wut des rechtgläubigen Pharisäers Paulus auf die ersten Christen, die behaupten, dass in diesem rechtmäßig Getöteten die Liebe Gottes erscheint. Eine absurde Aussage für jemanden, der meint, Gott rede durch Gesetze.
[7] Paulus radikalisiert das „moralische Kalkül“ in dieser Hinsicht sogar noch: „Alles ist erlaubt, aber es nützt nicht alles. Alles ist erlaubt, aber nicht alles dient zum Guten. Alles ist erlaubt, aber nicht alles baut auf. Niemand suche das Seine, sondern was dem andern dient“ (1. Kor 6,12; 10,23). Das ist derselbe Dreischritt von Grenzbeschreibung – Regel – Prinzip, wobei die Grenzbeschreibung hier extrem ist - gegenüber ehemaligen Heiden kann sich Paulus auch gar nicht auf die jüdische Thora als möglicher Quelle der Grenzbeschreibung berufen! Er rekurriert vielmehr auf die Integrität und Würde des Leibes (sic!).
[8] Diese Vision nennt Jesus „Reich Gottes“. Das „Paradies“ als endgültiger Ort des Menschen ist ein Ort, an dem Ethik nicht mehr nötig ist, weil Böses nicht mehr möglich ist. Freilich fällt wegen der Liebe Gottes schon ein schein des Paradieses auch auf dieses Leben, sonst wäre ja die Hoffnung ohne Grund. Das erklärt die große Beliebtheit der Weihnachtsgeschichte.
[9] Paulus spricht von der Gemeine als dem Leib Christi, woraus er einige bemerkenswerte ethische Schlussfolgerungen ableitet, die man ohne zu zögern mit dem modernen Begriff der Ganzheitlichkeit beschreiben kann (1. Kor 6, 15ff; 12, 12ff.). Die so spirituell zu verstehende Kirche als durch die Taufe konstituierte Gemeinschaft der Heiligen darf natürlich nicht mit den real existierenden Kirchen ineins gesetzt werden. Das wäre das katholische Missverständnis, von dem sich abzugrenzen der Protestantismus gute Gründe hat.
[10] So versteht Paulus das unter die Sünde geratene „Gesetz“: Es bewertet den Menschen, anstatt ihm Würde zu verleihen. Der Glaube befreit das „Gesetz“ Gottes von dieser Wahrnehmung und kann es folglich wieder als gute Gabe Gottes zum Lebenkönnen erkennen (2. Kor 3,6).
[11] Sehr eindrücklich dazu das Gleichnis von den anvertrauten Zentnern (Lk 19.11f), aber auch Paulus´ Aufschrei: Weh mir, wenn ich das Evangelium nicht verkündige (1 Kor 9,16).
[12] „Esto peccator et pecca fortiter, sed fortius fide et gaude in Christo, qui victor est peccati, mortis et mundi!“, Brief an Melanchthon, 1521; Immo novos decalogos faciemus, sicut Paulus facit per omnes Epistolas, et Petrus, maxime Christus in Euangelio. (WA 39/I; 47.15ff, Disputatio de fide, 1535):
[13] In epistulam Ioannis ad Parthos, tractatus VII, 8.

Samstag, 8. Oktober 2016

Geilheit, Gier und Würde. Predigt zum 20. S.n. Tr.; 1.Thess 4,1-8


1.Thess 4,1-8

4 1 Weiter, liebe Brüder, bitten und ermahnen wir euch in dem Herrn Jesus – da ihr von uns empfangen habt, wie ihr leben sollt, um Gott zu gefallen, was ihr ja auch tut –, dass ihr darin immer vollkommener werdet. 2 Denn ihr wisst, welche Gebote wir euch gegeben haben durch den Herrn Jesus.

 3 Denn das ist der Wille Gottes, eure Heiligung, dass ihr meidet die Unzucht 4 und ein jeder von euch seine eigene Frau zu gewinnen suche in Heiligkeit und Ehrerbietung, 5 nicht in gieriger Lust wie die Heiden, die von Gott nichts wissen. 6 Niemand gehe zu weit und [a]übervorteile seinen Bruder im Handel; denn der Herr ist ein Richter über das alles, wie wir euch schon früher gesagt und bezeugt haben.

7 Denn Gott hat uns nicht berufen zur Unreinheit, sondern zur Heiligung. 8 Wer das nun verachtet, der verachtet nicht Menschen, sondern Gott, der seinen Heiligen Geist in euch gibt.
 
Liebe Gemeinde!

Das sind sehr klare Worte. Wir sollen nach Gottes Willen leben. Und Paulus bringt zwei Beispiele, die mitten ins Leben greifen. Wir sollen die Unzucht meiden und wir sollen die „gierige Lust“ vermeiden.

Unzucht ist ein Wort, das ziemlich aus der Mode gekommen ist. Denn es meint so etwas wie eine fehlgeleitete Sexualität, das was früher Geilheit genannt wurde. Das ist ein heißes Thema. Viele denken jetzt zum Beispiel sofort an Homosexualität oder an Pornographie. Es könnte hier der Eindruck entstehen, als würde der Apostel die Sexualität im Ganzen verdammen. Das denken ja viele Menschen, dass Sexualität im Grunde schlecht ist. Andererseits spürt ja jeder, wie stark die Sexualität in uns ist, wie stark das Begehren in uns ist. Kann es sein, dass Gott die Sexualität im Ganzen verdammt? Aber warum hat er sie uns dann gegeben? Wir spüren doch ganz deutlich, dass wir diesem starken Trieb in uns kaum wederstehen können, er ist vielleicht der stärkste Trieb, den wir haben. Es geht ja nicht nur um Fortpflanzung. Sondern es geht ja auch um die Lust, es geht um Freude am Leben, Freude an der Beziehung, es geht um körperliche Nähe, die wir brauchen, wie das tägliche Brot. Kann etwas so Schönes und Wichtiges wirklich schlecht sein?

Das ist natürlich nicht der Fall. Es geht hier darum, dass wir lernen, mit unseren Trieben und Gelüsten umzugehen. Nicht die Sexualität ist schlecht, sondern das, was daraus werden kann. Auf kaum einem Gebiet können sich Menschen so weh tun, wie auf diesem. Darum geht es. Damit das klar ist, nennt er noch ein zweites Beispiel. Da geht auch um die gierige Lust, diesmal aber nicht im Sinne der Sexualität, sondern im Sinne der Geldgier. Wir sollen einander nicht übervorteilen, das heißt: Wir sollen einander nicht betrügen, wenn wir miteinander Handel treiben. Das leuchtet unmittelbar ein. Betrug ist etwas sehr Häßlliches, und wer schon einmal so richtig betrogen worden ist, wird das auch gut verstehen: Es ist eine ungeheure Kränkung, wenn wir merken, dass wir übers Ohr gehauen worden sind.

Was haben nun Betrug und "Unzucht" miteinander gemeinsam? Und warum verstoßen sie gegen Gottes Willen? Was steckt dahinter?

Das moderne Wort für das, was Paulus meint, heißt Respekt. Wer seiner Geilheit oder seiner Geldgier nachgeht, ohne Rücksicht auf andere zu nehmen, verletzt die Würde des Menschen. Denn wir haben ein Recht auf körperliche und geistige Unversehrtheit. Wir haben ein Recht darauf, respektiert zu werden in unsern Wünschen und Bedürfnissen, in unserem Verlagen nach Freiheit und Selbstbestimmung, in unserer Persönlichkeit. In dem Moment, wo mich jemand nicht respektiert, benutzt er mich. Dann macht er mich zu einer Sache, zu einem Gegenstand seiner Gier und behandelt mich nicht mehr als Mensch, sondern als ein Ding.  Darum geht es. Denn Gott hat uns als freie Menschen geschaffen, er hat uns eine Würde gegeben. Tiefster Ausdruck dafür ist es, dass Gott selber ein Mensch wurde, in Jesus Christus. Damit hat er ein für allemal deutlich gesagt, dass der Mensch unendlich viel Wert ist und das er niemals zu einer Sache gemacht werden darf, sondern dass wir Menschen ein Anrecht darauf haben, mit Respekt und Liebe behandelt zu werden. Genau das ist mit dem Wort „Heiligung“ gemeint. Denn Heilig ist etwas dann, wenn es zu Gott gehört, wenn es Gottes Eigentum ist und nicht das Eigentum von Menschen. Und also auch mit Ehrfurcht behandelt werden muss und soll. Darum geht es. Wer seiner Gier soweit nachgeht, dass er andere Menschenzu seinem Vorteil benutzt, der treibt Unzucht, der gibt sich der gierigen Lust hin ohne Rücksicht auf Verluste. Darum nimmt er Sexualiität und Handel als Beispiel, denn hier ist die Gefahr besonders groß, andere Menschen zu missbrauchen. Darum ermahnt er die Männer, ihre Frauen mit Ehrerbietung zu behandeln, nicht als ihr Eigentum, sondern als ein Geschenk, das ihnen von Gott gegeben worden ist. Was immer wir miteinander tun, es darf nur im gegenseitigen Einvernehmen geschehen. Das ist der Schlüssel. Denn um dieses Einvernehmen zu erlangen, müssen wir miteinander reden, müssen wir in Respekt und Ehrerbietung miteinander umgehen. Das schreibt er ja ganz wörtlich: „und ein jeder von euch suche seine eigene Frau zu gewinnen in Heiligkeit und Ehrerbietung“. Mit der Eheschließung hat der Mann kein Recht auf seine Frau gewonnen. Sie ist nicht sein Eigentum, sondern seine Partnerin, und die Kunst einer guten Ehe besteht darin, auf Augenhöhe miteinander zu verhandeln. Das war damals eine ebenso radikale Botschaft wie heute, und es gilt für jede Partnerschaft, egal, ob zwischen Männern und Frauen oder Partnern gleichen Geschlechtes, egal ob sie verheiratet sind oder sich auf andere Weise zum gemeinsamen Leben verpflichtet haben. Es gilt zum Beispiel auch im Verhältnis von Lehrern und Schülern oder zwischen Angestellten und Vorgesetzten. Darum gilt es auch für den Handel, also für das Wirtschaftsleben. Das Wesen des Handles ist die Verhandlung, ist das Gespräch unter Partnern, die miteinander den Preis für eine Sache aushandeln. Redet miteinander, das ist die eigentliche Botschaft hinter diesen Worten, und redet miteinander als geleichberechtigte Partner, als Kinder des einen Gottes. Bedenkt immer, was für eine kostbare und verletzliche Gabe der andere Mensch ist. Denn dann wahren wir unser Würde. Vielleicht ist das Wort „Würde“ sogar heute die bessere Übersetzung für das, was Paulus mit „Heiligkeit“ meint. Bewahrt in allem, was ihr tut, die Würde, denn wenn ihr würdelos handelt, verletzt ihr nicht nur den anderen Menschen, sondern auch Euch selbst!

Das klingt dann auf einmal ganz modern. Denn unser moderne Gesellschaft baut auf die Würde des Menschen. Im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland heißt es ganz eindeutig: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Und auch wenn das Grundgesetz kein christlicher Text im engeren Sinne ist, weil es religiös neutral ist, so spiegelt sich doch darin die christliche Grundlage unsere Kultur. Sie baut ganz auf die Menschenwürde. Das betrifft zum Beispiel unseren Umgang mit den Fremden unter uns. Auch dann, wenn es die Zuwanderung der vielen Menschen in unser Land Sorge bereiten mag, weil es eine riesige Aufgabe voller Risiken ist, dürfen wir die Fremden nicht anders behandeln, wie wir selber gerne behandelt werden möchten. Wir verlieren unsere Würde, wenn wir die anderen Menschen würdelos behandeln. Dabei spielt die Frage, ob unser Ängste vor den Fremden berechtigt sind, oder nicht, erst einmal gar keine Rolle. Vor allem anderen, was Fremde sind, sind sie Menschen und als solche von Gott ohne alle Bedingungen geliebte Menschen. Wenn ihre Häuser angezündet werden, wenn wir sie beschimpfen und verächtlich von ihnen reden, verletzen wir nicht nur sie, sondern auch uns selbst. Wir handeln dann weit unter unseren Niveau. Das macht das, was in unserem Land gerade so geschieht, aus christlicher Sicht so schwer ertragbar. Und darum müssen wir als Christen dagegen auch unsere Stimme erheben. Andere Menschen zu verachten, weil sie anders sind, ist nicht der richtige Weg. Der richtige Weg ist, sich mit ihnen auseinanderzusetzen, einander kennenzulernen, danach zu fragen, was die Menschen jetzt brauchen und ihnen Unterstützung und Hilfen anzubieten, soweit es in unser Kraft steht, und wenn es über unsere Kraft geht, woanders Hilfe zu suchen und gemeinsam Wege zu finden, wie wir die Krise meistern können. Sonst wird aus der Krise schnell ein Krieg, im übertragenen, aber oft genug auch im wörtlichen Sinne. Wir reden ja auch bei einer Ehe, in der die Partner den Respekt voreinander verloren haben, vom Ehekrieg. Das ist nicht so witzig, wie es klingt.

Das gilt für alle Lebensgebiete. Es ist letztlich die Frage, wie wir miteinander umgehen und was uns dient und nützt. An anderer Stelle sagt Paulus: Alles ist erlaubt, aber nicht alles hat einen Nutzen. Lasst uns als Christen, lasst uns als Menschen immer danach fragen, was wir brauchen und was uns hilft, dann erfüllen wir den Willen Gottes. In diesem Sinne kann man tatsächlich darin wachsen, „heilig“ zu werden und bessere Menschen zu werden. Nicht, indem wir nach abstrakten Regeln fragen, sondern danach, was uns weiter bringt auf dem Weg des Friedens.

Die altmodischen und harten Worte des Paulus klingen so auf einmal ganz modern, weil sie uns auf den Weg der Menschlichkeit bringen. Respektloses Verhalten aber, dass andere Menschen oder andre Geschöpfe zu einer bloßen Sache degradiert, ist kein sehr menschliches Verhalten. Es ist im Grunde ganz einfach, worum er hier geht, und Jesus sagt es an anderer Stelle auch ganz einfach: Behandele die anderen so, wie du auch gerne behandelt werden möchtest. Folge nicht deinen Ängsten und deinen Lüsten, sondern frag nach der Angst und der Lust der anderen. Dann seid ihr heilig und lebt, wie es Gott gefällt: nämlich als Geschöpfe, denen von Gott eine unverlierbare Würde eingesenkt wurde. Das ist die einfache Antwort auf die einfache Frage, wie wir als Christen richtig leben: lebt in Respekt voreinander!

Nur so kann die Welt ein besserer Ort werden, als sie ist: ein Ort, wo Menschen vor Menschen keine Angst mehr zu haben brauchen, sondern in einem Klima von Vertrauen, Zuversicht und Hoffnung miteinander leben können. Dann können wir die Sexualität genießen und die Gaben der Schöpfung in gerechtem Handle miteinander tauschen. Nicht der Sex und nicht das Geschäftemachen sind böse, sondern wenn wir den Respekt voreinander verlieren, gewinnt das Böse über uns Macht. Das aber kann nicht unserem Interessse sein. Denn nur wo Respekt und Rücksichtnahme herrschen, kann der Frieden wachsen.

Denn mehr wollen wir doch gar nicht. Mehr will auch Gott nicht. Ich glaube nicht, dass das zu viel verlangt ist, auch wenn es eine große Herausforderung ist. Aber wir können uns ihr getrost stellen. Und wenn uns unser Kraft verlässt, wenn Angst und Gier in uns Überhand nehmen: Dann lasst uns zu Gott beten, dass er uns hilft, den Respekt und die Würde wiederzufinden: Führe uns nicht Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen. Wie du es in Jesus Christus getan hast.

Amen.