Zu Beginn des Gottesdienstes:
Memorandum
der medizinischen Fakultät der Universität Paris, Oktober 1348, zur um sich
greifenden Pestepidemie, die als der schwarze Tod über 3 Jahrhunderte hinweg
Millionen Todesopfer fordern wird.
„Wir,
die Mitglieder des Medizinalkollegiums zu Paris, geben hier nach reiflicher
Überlegung und gründlicher Durchsprechung des herrschenden Sterbens und
Ablebens und nach Erforschung der Meinung unserer alten Meister eine klare
Darstellung der Ursachen dieser Pest gemäß den Regeln und Schlüssen der
Astrologie und Naturwissenschaft.
Wir
erklären somit folgendes: Man weiß, daß in Indien und in den Gegenden des
großen Meeres die Gestirne, welche mit den Sonnenstrahlen und der Hitze der
Himmelsfeuer kämpfen, ihren Einfluß besonders auf jenes Meer ausüben und heftig
gegen seine Gewässer ankämpfen. Daraus entstehen Dämpfe, welche die Sonne
verdunkeln und ihr Licht in Finsternis verwandeln. Diese Dämpfe erneuern alle
achtundzwanzig Tage den Kreislauf des Steigens und Fallens ohne Unterlaß
[...].
Falls
die Einwohner folgende Vorschriften oder ähnliche nicht beachten wollen,
kündigen wir ihnen unausweichlichen Tod an. [...]
Sobald
Donner und Hagel es ankündigt, muß jeder auf den Regen gefaßt sein und sich vor
der äußeren Luft während des Unwetters und nachher hüten. Man soll dann große
Feuer aus Weinreben, aus Lorbeerzweigen oder anderem grünen Holz anzünden,
ferner soll man große Massen Weihrauch und Kamillen auf den öffentlichen
Plätzen und an stark bevölkerten Orten und im Innern der Häuser verbrennen.
[...]
Kalte,
feuchte und wässrige Speisen sind größtenteils schädlich. Gefährlich ist das
Ausgehen zur Nachtzeit bis um drei Uhr morgens wegen des Taues. Fisch soll man
nicht essen; zuviel Bewegung kann schaden; man kleide sich warm und schütze
sich vor Kälte, Feuchtigkeit und Regen, man koche nichts mit Regenwasser. Zu
den Mahlzeiten nehme man etwa Theriak; Olivenöl zur Speise ist tödlich. Fette
Leute sollen sich der Sonne aussetzen. Eine große Enthaltsamkeit, Gemütserregungen,
Zorn und Trunkenheit sind gefährlich. Durchfälle sind bedenklich, Bäder
gefährlich. Man halte den Leib mit Klistieren offen – Umgang mit Weibern ist
tödlich; man soll sie weder begatten, noch in einem Bett mit ihnen schlafen.
Diese
Vorschriften gelten besonders für Alle, die an den Gestaden des Meeres oder auf
Inseln wohnen, wohin der verderbliche Wind gedrungen ist.“
Lesung:
Römer 3, 28-31
28 So halten wir
nun dafür, dass der Mensch gerecht wird ohne des Gesetzes Werke, allein durch
den Glauben. 29 Oder ist Gott allein der Gott der Juden? Ist er nicht auch
der Gott der Heiden? Ja gewiss, auch der Heiden. 30 Denn es ist der eine
Gott, der gerecht macht die Juden aus dem Glauben und die Heiden durch den
Glauben. 31 Wie? Heben wir das Gesetz auf durch den Glauben? Das sei
ferne! Sondern wir richten das Gesetz auf.
Predigt:
Liebe
Gemeinde, Schwestern und Brüder im Herrn, liebe Zuschauende und Zuhörende im
Live Stream,
Gnade
sei mit Euch und Friede von Gott unserem Vater und dem Herrn Jesus Christus!
Die
Reformation war eine Befreiung. Das ist es, was wir feiern und woran wir heute
erinnern. Eine Befreiung wovon? In der Lesung haben wir es gehört, in
schwerwiegenden Gedanken des Apostels Paulus über Gesetz und Glauben. Was er
dort in seiner schwierigen theologischen Sprache sagt, ist aber ein einfacher
Gedanke: Das Gesetz, die Regeln, sind für den Menschen da, nicht der Mensch für
die Regeln. Dass Gott uns liebt, uns annimmt und uns für immer treu bleibt,
hängt nicht davon ab, ob wir die Regeln und Gesetze halten. Er liebt uns
bedingungslos, es ist an uns, ihm zum vertrauen. Zwischen Gott und Mensch herrschen
Regeln und Gesetze, sondern die Liebe. Und für die steht Jesus Christus, dessen
Weg durch Tod und Angst in die Auferstehung ein Weg gegen die Angst und die
Verweiflung ist. So hat es Luther erfahren und erlebt, und dieser Impuls ist
der Impuls der Reformation: Befreiung von der Angst und die Befreiung der
Vernunft von religiösen Voruteilen, Aberglauben und falschem Autoritätsglauben.
Die
Vernunft ist nicht mehr die Sklavin des Glaubens, sondern seine Partnerin.
Vernunft und Glauben gehen nun Hand in Hand, Glauben und Wissen sind
Geschwister, die einander kritisch begleiten und um die Wahrheit streiten. Die
aber steht nicht in Büchern, sondern wird durch methodische Erfahrung, Auseinandersetzung
und ständige Überprüfung freigelegt. Das ist der Geist der Moderne, die in der
Reformation eine ihrer Wurzeln hat. Dem gehe ich in der Predigt nach.
Wir
haben zu Beginn das Gutachten der Pariser theologischen Fakultät zu der großen
Pestepidemie, dem Schwarzen Tod, gehört. Sie brach im Jahr 1347 aus und raffte innerhalb
kürzester Zeit Hundertausende, am Ende über fast drei Jahrhunderte gar
Millionen Menschen dahin.
Und wir
haben gehört, wie hilflos die Menschen dem damals ausgeliefert waren, weil die
Medizin der damaligen Zeit ein wüster Mix aus Religion. Aberglauben,
Autoritätsglauben und wirren Theorien war, die dann auch völlig sinnlose und
sogar schädliche Ratschläge gab. Am Ende blieb den Menschen nur Beten, und
selbst das half nicht, beten hilft eben nicht gegen das Sterben, sondern gegen
die Angst.
Am
Ende galt die Pest als eine Strafe Gottes - was die Angst der Menschen nur noch
steigerte und sie in den Wahnsinn des religiösen Fanatismus, der
Hexenverbrennung, Judenverfolgung und der teilweise völligen Auflösung der
Ordnung führte. Das Ganze war, aus heutiger Sicht, sehr unvernünftig, und die
Religion spielte da eine unrühmliche Rolle: Die Kirche schürte noch die Angst.
Auch
zur Zeit von Martin Luther wütete die Pest wieder einmal in Deutschland, und im
Jahre 1527 kam sie auch nach Wittenberg. Und dazu hat Luther eine kleine
Schrift verfasst, mit dem Titel: „Ob man vor dem Sterben fliehen solle“.
Und
Luther antwortete - ganz modern : das hängt von den Umständen ab! Niemand ist
verpflichtet, sich und andere unnötig in Gefahr zu bringen.
Allerdings
unter einer Bedingung: Für das Wohl der Nächsten muss gesorgt sein. Die ganze
Anstrengung muss, bei aller Sorge um die eigene Gesundheit, dahin gehen,
Menschen nicht im Stich zu lassen und, wie wir heute sagen würden, die
notwendige Balance zwischen der Sorge für sich und die Sorge für den andern zu
finden. Und so gibt er ganz nüchterne Ratschläge:
Die
Friedhöfe sollen aus den Städten verlegt werden, damit sie nicht ein Ort des
Unheils werden; es sollen Krankenhäuser aus der öffentlichen Kasse eingerichtet
werden und eine Fürsorge organisiert. Und dann, wir hören es wörtlich,
„Wenn Gott tödliche
Seuchen schickt, will ich Gott bitten, gnädig zu sein und der Seuche zu
wehren. Dann will ich das Haus räuchern und lüften, Arznei geben und
nehmen, Orte meiden, wo man mich nicht braucht, damit ich nicht andere
vergifte und anstecke und ihnen durch meine Nachlässigkeit eine Ursache
zum Tode werde.
Wenn mein Nächster
mich aber braucht, so will ich weder Ort noch Person meiden, sondern frei
zu ihm gehen und helfen. Siehe, das ist ein gottesfürchtiger Glaube, der
nicht tollkühn und dumm und dreist ist und Gott nicht versucht.“
Das klingt sehr vernünftig.
Und sehr vernünftig ist es auch, nicht in ein falsches und hochmütiges,
dummdreistes Gottvertrauen zu verfallen und zu meinen, dem Frommen könne nichts
passieren. Das wäre nach Luthers Sicht geradezu gotteslästerlich!
Das ist schon ein sehr
anderer Ton als der des Pariser Pestgutachtens! Das ist der Ton, mit dem
Reformation die Kirche und den Glauben, am Ende aber die gesamte Gesellschaft
aus der Enge eines Glaubens, der auf Angst beruht, in die Freiheit eines
Glaubens führte, der auf Vertrauen beruht und die Vernunft einsetzt.
Nun wissen wir heute so
unendlich viel mehr und Besseres über die Herkunft, die Verbreitung und die
Bekämpfung der Seuchen.
Die Befreiung der Vernunft,
die nun frei war, nicht mehr mit der Bibel in der Hand die Welt zu erforschen,
sondern auf die Fähigkeiten des Menschen zur Erkenntnis und zu Wahrheit zu
vertrauen, hat uns Möglichkeiten des Lebens in die Hand gegeben, von der Luther
nicht einmal träumen könnte und für die wir Gott nicht genug danken können.
Wir verstehen heute die
Seuche nicht mehr als Strafe Gottes, sondern als Herausforderung an unsere
Vernunft und unsern Glauben.
Sie ist eine Katastrophe wie
andere auch, halb naturgemacht, halb menschengemacht, und wie andere
Katastrophen fordert sie unsere Solidarität, unseren Gemeinschaftssinn und
unser Vertrauen heraus.
Wir sind frei, uns nach dem
zu richten, was vernünftig ist.
Luther sagt einmal ganz
zugespitzt: die Christen machen neue 10 Gebote, wenn es die Zeit erfordert. Das
Gesetz muss dem Menschen dienen, und die Liebe ist der Prüfstein! So richten
wir das Gesetz auf, wie Paulus schreibt, das Gesetz der Liebe.
Und vernünftig ist es, auf
die Wissenschaft zu hören und mit ihr um die Wahrheit zu streiten, vernünftig
ist es, den Erkenntnissen der letzten 200 Jahre zu folgen, die uns so viel
Segen gebracht haben, dass wir oft vergessen, wie zerbrechlich unser Leben ist.
Vernünftig ist es aber auch,
auf Gott zu vertrauen! Das ist nämlich kein Gegensatz! Also heißt die Devise,
die wir aus dem Impuls der Reformation aufnehmen: Auf Gott vertrauen und vernünftig sein.
Luther hätte heute, dessen bin ich mir ziemlich sicher, harte Worte für den Leichtsinn
und das Geschwätz gefunden, und vermutlich zum Maskentragen, zur Quarantäne,
zur Hygiene geraten, zur Zurückhaltung in den Kontakten, denn es geht geht um das Wohl des Nächsten und das
Gemeinwohl: das wir anderen nicht durch unsere Nachlässigkeit ein Grund zum
Tode werden!
Darum tun wir als Kirche gut
daran, das auch in besondere Weise zu tun und unseren Beitrag zu leisten und so zu Zeugen für die Freiheit
zu werden, die Gott uns schenkt. Wir halten uns an die Regeln nicht aus Zwang,
sondern aus Freiheit und Einsicht.
Wir wissen, dass gemeinsames
Singen gefährlich ist. Wir wissen, dass größere Menschenansammlungen gefährlich
sind. Wir wissen, wie gefährlich der zu enge Kontakt ist.
Wir wissen, dass wir aus
dieser Pandemie nur herauskommen, wenn wir auch bereit sind, Opfer zu bringen -
aber was zählen die gegen Menschenleben? Und das größte Opfer, das wir werden
brngen müssen, ist die zu schüzten, die Opfer bringen müssen bis an den Rand ihrer
Existenz, die unter dem Lockdown leiden und in ihrer Lebensgrundlage bedroht
werden. Es wird auch darum gehen, unseren Wohlstand dadurch zu wahren, dass wir
ihn verteilen. Das wird die eigentliche Herausforderung werden!
Nicht Furcht und Sorge
sollen uns bestimmen, aber auch nicht Gleichgültigkeit und Schulterzucken,
nicht Panik und wirres Geschrei sollen uns bestimmen, auch nicht Zorn und Wut, sondern
Nüchternheit, Besonnenheit und Maßhalten.
Der Verzicht auf den Gottesdienst,
wie wir ihn kennen, der Verzicht auf den Gesang, der Verzicht auf enge, auch
körperliche Gemeinschaft kommt uns hart an und trifft uns ins Mark.
Aber unser Heil hängt nicht
daran. Die Kirche hat schon ganz andere Katastrophen überlebt, für Selbstmitleid
und Gejammer gibt es keinen Grund. Trauer ja, Jammern nein!
Aber es gibt Grund zum
Vertrauen: daran hängt unser Heil, nicht an Regeln und Gesetzen. Und Vertrauen
führt in die Freiheit: Die Freiheit, unseren Glauben so zu gestalten wie die
Zeiten es zulassen. Jetzt, in der Zeit der Seuche, bewährt sich die Kirche als
Sorgegemeinschaft: Sorge für uns, Sorge für den Nächsten, Sorge für die
Gesellschaft.
Wenn wir als Kirche uns an
diese Regeln halten, ist das nicht Staatshörigkeit oder Untertanengeist, wie
oft geschwätzt wird, sondern Vernunft, die aus der Liebe geboren wird. So,
liebe Gemeinde, liebe Schwestern und Brüder, liebe Mitmenschen, so halten wir das
Erbe der Reformation in Ehren:
Wir folgen der von der Angst
befreiten Vernunft, die nach dem Wohl des Menschen fragt. Gott gebe uns dazu
seinen Geist und lehre uns recht beten!
Und wir freuen uns jetzt
schon darauf, dass wir auch aus diesem finsteren Tal zum frischen Wasser
geführt werden.
Und ich freue mich schon auf
den ersten Gottesdienst, den wir wieder in voller Pracht und Glanz feiern
können, wann immer das sein wird.
Bis dahin aber: Bleibt
vernünftig, um Gottes und der nächsten Willen, haltet Euch an die Regeln,
nicht, weil sie von Gott kommen, sondern weil sie vernünftig sind und Ausdruck
der tätigen Nächstenliebe.
Und dankt Gott für den Segen
der Wissenschaft, die es bisher geschafft hat, diese Seuche nicht zu einer
Katastrophe werden zu lassen und uns aus dem Dunkel der wirren Theorien geholt
hat, die wir am Anfang gehört haben.
Lasst uns, in aller
Freiheit, alles dafür tun, dass es so bleibt. Gott ist mit uns, er ist unsere
feste Burg, nicht unser Gefängnis.
Amen.