Montag, 28. Oktober 2019

Predigt zum 19. S.n. Tri, Joh 5, 1-9a Raus aus der Opferrolle


 Joh 5,1-16
Die Heilung eines Kranken am Teich Betesda
5 1 Danach war ein Fest der Juden, und Jesus zog hinauf nach Jerusalem.2 Es ist aber in Jerusalem beim Schaftor ein Teich, der heißt auf Hebräisch Betesda. Dort sind fünf Hallen;
 in denen lagen viele Kranke, Blinde, Lahme, Ausgezehrte. 5 Es war aber dort ein Mensch, der lag achtunddreißig Jahre krank. 6 Als Jesus den liegen sah und vernahm, dass er schon so lange gelegen hatte, spricht er zu ihm: Willst du gesund werden? 7 Der Kranke antwortete ihm: Herr, ich habe keinen Menschen, der mich in den Teich bringt, wenn das Wasser sich bewegt; wenn ich aber hinkomme, so steigt ein anderer vor mir hinein. 8 Jesus spricht zu ihm: Steh auf, nimm dein Bett und geh hin! 9 Und sogleich wurde der Mensch gesund und nahm sein Bett und ging hin.

Liebe Gemeinde!
Willst Du gesund werden? Das ist eine merkwürdige Frage, die Jesus da stellt. Willst Du gesund werden – gerade noch hat der Erzähler Johannes deutlich betont: der Mann war achtundreissig Jahre lang krank. Vermutlich meint er damit: sein ganzes Leben. Und es wird zwar nicht gesagt, was er hat, doch aus dem Zusammenhang der Geschichte wird deutlich: er kann nicht laufen. Jedenfalls nicht schnell laufen. Denn als Jesus ihm diese Frage stellt, bekommt Jesus zur Antwort: „Herr, ich habe keinen Menschen, der mich in den Teich bringt, wenn das Wasser sich bewegt; wenn ich aber hinkomme, so steigt ein anderer vor mir hinein“. Die Hallen am Teich Bethesda scheinen so etwas wie sehr spezielle Krankenhäuser zu sein. Die Kranken dort warten, bis sich das Wasser des Teichs bewegt, dann laufen sie zu dem Teich. Wer ihn als erster erreicht, wird geheilt. Dahinter steht vermutlich die Vorstellung, dass ein heilender Engel aus dem Wasser aufsteigt oder über das Wasser schwebt. Das ist alles recht merkwürdig und von unsren Vorstellung von Medizin und Heilung sehr weit entfernt. Doch das ist nicht das, worauf die Geschichte den Blick lenkt. Es ist die Frage Jesu: „Willst Du gesund werden“?
Noch einmal die Antwort des Mannes: „Herr, ich habe keine Menschen, der mich in den Teich bringt, wenn das Wasser sich bewegt“. Der Mann sagt nicht einfach: „Ja, ich will gesund werden“. Stattdessen erzählt er, warum es ihm bisher nicht gelang. Er bekam keine Hilfe. Das ist, wie so oft im Johannesevangelium eine sehr doppelbödige Erzählung. Auf den ersten Blick sieht es so aus, als wäre es eine Geschichte davon, dass ein Mann in seiner Krankheit allein gelassen wird. Es klingt also wie eine Geschichte von der Hartherzigkeit der Menschen. Auf den zweiten Blick aber erscheint etwas anderes. Denn Jesus macht jetzt nicht das, was man erwarten sollte. Er hilft dem Mann nicht, das Wasser zu erreichen. Sondern er sagt ganz einfach zu dem Mann: „Steh auf, nimm dein Bett und geh hin“. Und so geschieht es dann auch. Der Umweg über die Hilfe anderer war gar nicht nötig. Jesus heilte ihn direkt. Wieso hat der Mann Jesus nicht gleich um Hilfe gebeten? Hier öffnet sich der doppelte Boden der Geschichte. Die Frage Jesu: man könnte fast meinen, der Mann wolle gar nicht wirklich gesund werden. Es sieht so aus, als hätte er sich in der Rolle eingerichtet, die ihm zugewiesen wurde: dass er Opfer ist, ein Alleingelassener, ein Vergessener. Deswegen stellt Jesus ja die Frage: „Willst Du gesund werden“? Man muss im Grunde nur ein kleines Wörtchen ergänzen, um die ganze Schärfe der Frage zu verstehen: „Willst Du überhaupt gesund werden? Warum hast du nicht schon längst andere um Hilfe gefragt ?“ Jesus hat den nicht unbegründeten Verdacht, dass sich der Mensch in seiner Opferrolle eingerichtet hat. Dass er im Grunde Angst davon hatte, wieder gesund zu werden. Darum die unmittelbare Antwort: „Nimm dein Bett und geh“! Denn wer gesund ist, der muss sich wieder auf die Beine machen. Die Ofperrolle, das weiß Jesus ganz genau, ist für Menschen sehr verlockend. Denn kann man andere für sein Unglück verantwortlich machen. Dann muss man keine Verantwortung übernehmen. Dann kann man liegen bleiben und vom Mitleid anderer leben. Das klingt ein wenig absurd – aber es ist in Wahrheit zutiefst menschlich. Menschen gehen gerne in die Opferrolle. Das kennen wir aus vielen Lebensgebieten: viele Beziehungen funktionieren genau so. Ein Mensch geht in die Opferrolle und macht die anderen dafür verantwortlich. Alle sind schuld, nur man selbst nicht. Das durchkreuzt Jesus: „Nimm Dein Bett und geh. Mach dich auf. Die bequeme Zeit ist vorbei“. Jesu heilt den Mann von einer Lähmung, die viel tiefer geht, als dass sie nur den Körper betrifft. Er heilt den Menschen von seiner geistigen Lähmung. Er holt in aus der Erstarrung und stellt ihn auf die Beine.
Liebe Gemeinde, das ist eine sehr kluge Geschichte. Heute sind in Thüringen Wahlen, und alle sind gespannt, wie sie ausgehen: Die Umfragewerte sind schwankend. Es wird viel darauf ankommen, wie hoch die Wahlbeteiligung ist. Die sinkt ja seit Jahren bei fast allen Wahlen, vor allem in den neuen Bundesländern. Warum eigentlich? Warum nehmen Menschen ihre Verantwortung nicht wahr? Wir erleben seit geraumer Zeit, auf jeden Fall aber seit der Wiedervereinigung vor dreißig Jahren, dass viele Menschen tatsächlich ein eine Art Opferrolle verfallen. „Man kann ja sowieso nichts machen!“ heißt es dann, und gleichzeitig wird darüber geklagt, wie schlecht alles geworden ist. Obwohl die Zahlen eine andere Sprache sprechen. Wir leben immer noch, und das schon seit Jahren, in einem wirtschaftlichen Aufschwung. Und auch wenn wir ein massives Problem mit der Gerechtigkeit, mit der Verteilung der Güter haben, wird die Lebenssituation der Menschen immer besser. Freilich: Die Welt wird auch immer komplizierter.  Das Leben ist in vieler Hinsicht anstrengender geworden. Das ist ja auch kein Wunder: Der Wohlstand will erarbeitet und gesichert werden. Von nichts kommt nichts. Alle sind gefordert, viel mehr, als dass früher der Fall gewesen sein mag, Verantwortung zu übernehmen und sich zu beteiligen. Das macht Mühe, keine Frage. Aber macht es wirklich so viel Mühe, dass man in einer Opferrolle fallen muss? Offensichtlich. Denn die Opferrolle ist so schön bequem: Die anderen sind schuld. Aber das hat fatale Folgen. Das führt am Ende dazu, dass man überall Schuldige sucht, anstatt nach Lösungen zu suchen. Das aber ist für ein Gemeinwesen tödlich. Vor allem dann, wenn man die Schuld immer bei den Anderen sucht. Dann entstehen die Verschwörungsmythen. Dann sind plötzlich die Juden schuld, die Fremden, die Wessis, die Ossis oder wer auch immer. Und das vergiftet das politische Klima ganz ungeheuer. Denn das sind, bei genauer Betrachtung, alles Hirngespinste. Es ist sehr bequem, die Schuld auf andere zu schieben. Dann muss man nicht selbst aktiv werden. „Herr, ich habe niemanden, der mich zum Waser bringt“. Ja, fragt man sich, wieso fragst du niemanden? Wieso kümmerst Du dich nicht darum, dass sich jemand um dich kümmert? Ein gesellschaftliches Klima, in dem immer nur Opfer und Täter gesucht werden, indem die Verantwortung für das vermeintliche oder echte Elende auf andere geschoben wird, ist am Ende sehr vergiftet. Und das spüren wir gerade sehr deutlich. Andere sind schuld. Im Thüringer Wahlkampf ist der Vorsitzende der CDU, Mike Mohring, mit dem Tod bedroht worden. Weil ihm und seiner Partei die Schuld gegeben wird an allem Möglichen – was grotesk ist. In Halle hat ein junger Mann beinahe ein schlimmes Massaker angerichtet, weil er denkt, dass die Juden an allem Schuld sind und dass er ein armes Opfer unveränderbarer gesellschaftlicher Verhältnisse geworden ist. Ganz abgesehen davon, dass das eine scheußliche Tat ist, ist es auch ein wirklich dummes Denken, immer Anderen die Schuld zu geben. Jesus weist dieses Denken weit von sich. Nimm Dein Bett und geh! Übernimm Verantwortung, erheben Dich von deinem bequemen Lager, raus aus der Opferrolle. Jesus sagt das mit der Vollmacht Gottes. Und er sagt es nicht nur diesem Mann. Er sagt es uns allen, und er sag es mit der Vollmacht Gottes. Das eigentliche Wunder dieser Geschichte ist nicht, dass der Mann einfach so von seinem körperlichen Gebrechen geheilt wird, das eigentliche Wunder ist, dass er aus seiner Opferrolle geholt wird. Gott will, dass wir Verantwortung übernehmen und unser Leben gestalten. Dass wir nach Lösungen suchen, anstatt tatenlos und jammernd auf der Matte zu liegen. Die Lösung für diesen Mann wäre gewesen, Gott um Hilfe zu bitten. „Willst du gesund werden“? „Ja, ich will, hilf mir, zeig mir einen Weg“. Das wäre die richtige Antwort gewesen. Und das ist auch die Antwort auf unsere politischen und gesellschaftlichen Probleme, die im Moment sehr davon bestimmt sind, dass wir in die Opferrolle fallen und lieber klagen und jammern, anstatt nach Wegen zu fragen. Wir dürfen uns freilich vor der Antwort nicht fürchten: „Nimm dein Bett und geh“. Denn bei Lichte betrachtet, geht es dem Mann doch jetzt sehr viel besser als vorher: er hat sein Leben wieder in der Hand, auch wenn es jetzt wieder richtig viel Arbeit macht. Aber er ist wieder lebendig, von seiner Lähmung geheilt. Gebe Gott, dass auch wir diese Frage hören und ernst nehmen: „Willst Du geheilt werden“? Es ist diese Frage, die Gott uns stellt. Und wir sind gut beraten, nicht damit zu antworten, dass wir die Verantwortung für unser Unglück anderen in die Schuhe schieben, sondern bereit sind, die Antwort zu hören: „Nimm Dein Bett und geh“. Nimm Dein Leben in deine Hand. Warte nicht auf andere. Suche die Hilfe, die du brauchst. Allein diese Einsicht, dass es eigentlich immer eine Lösung gibt, wenn man bereit ist mitzuarbeiten und mitzuwirken, ist schon heilsam. Und dieser Art des Heils brauche wir: Heilung von der Opferrolle. Man darf gespannt sein, ob die Wahl heute zeigt, dass Menschen diesen Weg in die Verantwortung finden. Als Kirche aber, als die von Jesus in die Verantwortung Gerufenen, sind wir auch berufen, die Opferrolle nicht anzunehmen, sondern immer dazu aufzurufen, nicht nach Schuldigen zu suchen, sondern Lösungen zu finden. Wir haben die Verheißung Gottes. dass er uns dabei hilft und uns aus der Lähmung herausholt. Amen.




Predigt zum Reformationstag 2019, Schma Jisrael


5.Mose 6,4-9
4 Höre, Israel, der HERR ist unser Gott, der HERR allein. 5 Und du sollst den HERRN, deinen Gott, lieb haben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit all deiner Kraft.  6 Und diese Worte, die ich dir heute gebiete, sollst du zu Herzen nehmen. 7 und sollst sie deinen Kindern einschärfen und davon reden, wenn du in deinem Hause sitzt oder unterwegs bist, wenn du dich niederlegst oder aufstehst. 8 Und du [a]sollst sie binden zum Zeichen auf deine Hand, und sie sollen dir ein Merkzeichen zwischen deinen Augen sein, 9 und du sollst sie schreiben auf die Pfosten deines Hauses und an die Tore.

Liebe Gemeinde, diese sehr feierlichen Worte sind das Glaubensbekenntnis des Volkes Israel. Es wird in der Synagoge bei jedem Gottesdienst gebetet, auch für das tägliche Gebet ist es entscheidend. Wer das Schma Jisrael verkündet, stellt sich als Jude und als Christ in die große Geschichte Gottes mit seinem erwählten Volk und der ganzen Menschheit. Es steht im fünften Buch Mose und eröffnet den großen Block der Gesetze und Regeln, mit denen Gott das Leben der Menschen, vor allem aber des jüdischen Volkes, regeln will.
 Es ist Ausdruck eines tiefen Glaubens daran, dass Gott in der Geschichte wirkt, weil er Menschen in die Freiheit führt, so wie es das Volk Israel erlebt hat, als er aus der Knechtschaft in Ägypten und aus der Gefangenschaft in Babylon befreit hat.
Uns Christen erinnert es zudem an die große Tat Gottes, als er in der Auferweckung Jesu die Gefangenschaft des Todes beendet hat und die frohe Botschaft so für alle Menschen öffnete.
Es ist ein Bekenntnis zu dem Gott, der in die Freiheit führt. Und so ist gut und angemessen, dass wir diese Worte heute, am Gedenktag der Reformation, hören und bedenken. Denn das Schma Israel, das in unserer gemeinsamen Bibel steht und uns unserem gemeinsamen Gott spricht, erinnert uns an noch etwas, und es ist im Grunde ein Skandal, dass ich das heute, im Jahre 2019, nach allem was wir in der Geschichte mit dem Volk der Juden erlebt und ihnen angetan haben, sagen muss:
Man kann nicht Christ sein und Antisemit. Man kann nicht das Vaterunser beten und gleichzeitig Juden hassen. Denn wer Juden hast oder verachtet, der verachtet Jesus Christus. Denn er ist der Gesandte, der Sohn eben jenes Gottes, von den Israel in seinem Glaubensbekenntnis spricht, von dem einen Gott, Schöpfer und Erhalter der Welt. Darum können wir auch keine Muslimen hassen, denn auch sie beten zu dem einen Gott, wenn auch auf ihre Weise, die nicht die unsere ist. Ja, man kann überhaupt keinen Menschen hassen, denn wir sind alle Kinder dieses einen Gottes: Seine Gnade, seine Liebe gehört allen Geschöpfen. Wer sind wir, zu hassen, was Gott über alle Dinge liebt?
Und wenn doch der Hass da ist, wie er unter Geschwistern schon einmal auftritt, dann haben wir die heilige Pflicht, die unaufgebbare Aufgabe, die Versöhnung zu suchen und den Hass zu überwinden: er ist Sünde. Denn dass Gott uns vergibt, heißt nicht, dass wir uns beruhigt zurücklehnen sollen. Versöhnung und Vergebung nehmen uns vielmehr in die Pflicht, sie weiterzusagen und in die Welt zu tragen und für Versöhnung zu kämpfen.
Mögen die Auffassungen, die Erfahrungen von Juden, Christen und Moslems mit diesem einen Gott auch noch so verschieden sein, mögen wir auch einander auch noch so fremd sein: Dieser Auftrag steht im Raum: Sucht die Versöhnung.
Und Versöhnung geschieht durch Begegnung. Es ist schon auffallend, dass der Hass auf andere meist da am größten ist, wo man die anderen gar nicht kennt!
Unkenntnis, Vorurteile und Angst vor dem Fremden, nur weil es das Fremde ist, ist die Quelle von Hass.
Wir sollen nicht übereinander reden, sondern miteinander, wir sollen nicht in Unkenntnis verharren, sondern uns kundig machen: Wer sind diese Anderen? Was immer ihr über Juden und das Judentum zu wissen meint, überprüft es. Was immer ihr denkt und meint, eines steht fest: Sie sind unsere Schwestern und Brüder im Glauben an den einen Gott, der in die Freiheit führt. Daran erinnert uns Christen das Schma Jisrael, das Glaubensbekenntnis im fünften Buch Mose. Da müssen wir anfangen, wenn wir den absurden und grotesken Verschwörungsmythen über Juden und das Judentum entgegentreten wollen, die unser Denken und Handel vergiften und, wie wir sahen, bis zum Mord führen.
Und ich bekenne aufrichtig meine Naivität in diesem Punkt.
Ich hätte es als junger Pfarrer vierzig Jahren nicht für möglich gehalten, dass ich das einmal so deutlich und kompromisslos in einer Predigt sagen muss , und nicht nur aus frommer Beschaulichkeit, weil man da ja ab und zu drüber predigen muss, sondern weil hier in diesen Land jüdische Menschen wieder um ihr Leben fürchten müssen, weil hier der Hass wieder seine widerliche Fratze zeigt, der nicht nur widerlich ist, wie es Hass eben ist, sondern geradezu gottlos. Der Hass zerfrisst unsere Gesellschaft von innen heraus, er ist der schlimmste Feind von Freiheit und Frieden.

Wie konnte es dazu kommen? Nun, weil es unser schweres Erbe ist, da man eben nicht so einfach los wird: und da kommt Martin Luther ins Spiel. Ja, es war Luther, der als alter, verbitterter und von seiner Kirche und den Menschen, und auch von sich selbst zutiefst enttäuschter alter Mann als seine Wut, all seine Frustration und alle seine Verletzungen auf dieses Volk, auf Gottes, auf die Juden warf und die vielleicht schlimmsten judenfeindlichen Schriften schrieb, die ein Christ je verfasst hat. Da gibt es kein Vertun: das ist so. Er hat uns damit den Hass auf die Juden tief in unser Denken eingepflanzt, es ist unser dunkles, schweres und schwarzes Erbe, das wir seitdem tragen: Der Theologe Martin Luther hat vieles geschrieben, was bis heute zum großen Schatz des christlichen Glaubens gehört, für alle Christen, wie inzwischen auch in der Ökumene gesehen wird. Aber der Mensch Martin Luther, der Kirchenmann Martin Luther hat auch Sachen geschrieben, die zum Unerträglichsten und Schlimmsten gehören, was je aus der Feder eines Christenmenschen geflossen ist. damit müssen wir uns auseinandersetzen, von diesem Erbe müssen wir uns trennen: Wir müssen mit Martin Luther, der so umwälzende und kraftvolle Worte für die Freiheit und die Kraft des Glaubens gefunden hat, gegen Martin Luther denken und reden, der so scheußliche Sachen geschrieben hat, über Juden und Moslems, über Bauern und Katholiken.
Es sitzt tief uns. Selbst ich erwische mich in Stunden der Frustration und der Schwermut bei dem Gedanken: Haben die Juden es nicht doch verdient, ist nicht doch etwas daran an den jahrhundertealten Vorurteilen über das Volk der Juden? Und erschrecke zugleich zutiefst, weil ich spüre, wie dieses schlimmes Erbe in mir wirkt und tobt wie eine Erbkrankheit, und ich höre dann das Nein! Nein! Nein!, das Gott mir entgegenruft, wenn er mir Jesus Christus, den Juden aus jüdischer Familie, vor Augen stellt. Die Reformation hat eine dunkle Seite, auch sie war nicht frei von Hass und Verachtung, auch sie scheiterte immer wieder an der Verkündigung des Evangeliums, darin ist sie menschlich, zutiefst menschlich, und darum feiern wir sie zwar als Anfang einer neuen befreiten Art des Glaubens, aber zugleich erkennen wir, wohin es führt, wenn man auch nur einen Moment aus den Augen verliert, was wir eigentlich glauben: Dass durch den Juden Jesus das Heil in die Welt kam. Wie lautet der Vorwurf dann, wie lautet die Formel des Hasses, des frommen Hasses:

Die Juden haben Jesus getötet? Nein, ein aufgehetzter Mob hat seinen Tod gefordert und ein machtgieriger und zugleich zutiefst feiger römischer Besatzungsmilitär hat es zugelassen. Nicht „die Juden“, nicht „die Römer“, , sondern einzelne, verblendete, vom Hass aufgewiegelte Menschen waren es, die riefen: Kreuziget ihn! Nicht „den Juden“ und „den Römern“ wird hier der Spiegel vorgehalten, Sonden all jenen Menschen, die aus religiösen Gründen hassen, die den Glauben nicht als ein Kraft zum Leben, sondern als eine Energie zum Töten missbrauchen, und wenn es eine Sünde gibt, die man die größte nennen kann, dann ist es die: Den Namen Gottes zum Töten zu missbrauchen. Das ist die Sünde, von deren Vergebung wir immer reden: Glaube und Tod miteinander zu vermischen.

Gott macht es anders. Er führt uns ins Leben und nimmt sogar seinen Tod in Kauf, anstatt auf Gewalt mit Gewalt zu antworten: dass er gestorben ist, ist nicht seine Schwäche, es ist Zeichen seiner Stärke: Er starb aus Liebe zu seinen Geschöpfen, die ihn so widerlich behandeln.
Darum ist der Glaube an Gott für uns Christen  kein anderer Glaube als der Glaube an den Gott der Juden, der sein Volk erwählt und befreit hat und der sich aller Welt in Jesus Christus gezeigt hat. Glaube ist Glaube ab den versöhnenden und barmherzigen Gott oder es ist kein Glaube, und darin sind sich die Menschen, die von Gott jemals berührt wurden, zutiefst einig: Hass ist pervers, und wo eine Religion, die sich auf den einen Gott beruft, Hass predigt, und wo selbst in ihren heiligen Schriften, die ja auch von Menschen geschrieben sind, vom Hass anders die Rede ist als so, dass er überwunden werden muss, da ist diese Religion nur eine Fratze des Glaubens und verdient dieses Wort nicht, da ist dieser Glaube nicht als Ideologie, Lüge und Verblendung.

Das ist die frohe Botschaft für das 21. Jahrhundert, und es war nie eine andere, auch und gerade weil sie immer und immer wieder in ihr Gegenteil verkehrt wurde und wir Schuld über Schuld auf uns geladen haben, weil wir den Namen Gottes missbrauchen. Darum sprechen die Juden aus Klugheit und Vorsicht den Namen Gottes nicht aus, darum rufen auch die Moslem Gott als „Allah“, als Gott, an, und darum nennen wir ihn beidem Namen an, der für die Liebe schlechthin steht: Jesus Christus, damit wir Gott nicht verwechseln mit dem Götzen unserer gottlosen Angst.

Das ist die wahre Reformation, die wahre Umwandlung, die Umkrempelung und Erneuerung unseres Herzens und Denkens, und die brauchen wir immer und immer wieder, weil der Hass nach uns greift, der Hass auf alles, was anders ist, der Hass auf alles, was uns in Frage stellt, der Hass auf uns selbst sogar, wenn wir unseren Ansprüchen nicht genügen. Die wahre Reformation, die wir Tag für Tag brauchen, ist, dass wir von der Liebe berührt und verwandelt werden.
Wie aber kann das geschehen? Indem durch das Wort Gottes die die Augen geöffnet bekommen für die Zerbrechlichkeit und Schönheit des Lebens. In dem wir uns und andere erinnern, wie es ist, geliebt zu werden. Indem wir die Sehnsucht zulassen nach Berührung und Nähe, indem wir miteinander trauern und feiern, weinen und lachen, erzählen und zuhören, indem wir einander sehen als das, was wir sind: Sterbliche, die nichts wollen als leben, gut leben, mit Dir und mit Dir und mir Dir. Wir sind Geschwister unter dem einen Vater:
4 Höre, Israel, der HERR ist unser Gott, der HERR allein. 5 Und du sollst den HERRN, deinen Gott, lieb haben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit all deiner Kraft.  6 Und diese Worte, die ich dir heute gebiete, sollst du zu Herzen nehmen. 7 und sollst sie deinen Kindern einschärfen und davon reden, wenn du in deinem Hause sitzt oder unterwegs bist, wenn du dich niederlegst oder aufstehst.

Die einen loben Gott, weil er sie aus der Knechtschaft führt und Ihnen ein Gesetz gibt, nach dem sie gut leben können, das Volk der Juden; die anderen loben ihren Gott, weil er durch den Erzengel Gabriel und den Propheten gesprochen hat und sie vor Hölle und Verdammnis bewahrt, die Moslems, wir loben ihn, weil er unter uns lebte als Mensch unter Menschen, damit wir Menschen werden.
Meine Lieben: Gerade weil uns heute, am wichtigsten Gedenktag der evangelische Kirche, weil wir uns heute an dem Tag versammeln, wo wir auch die schmerzliche Trennung der Christengeit so brennend spüren, gerade weil uns heute als biblisches Wort  das Bekenntnis des Volkes Israel begegnet, das kein anders ist als das Bekenntnisses unseres Herkunft, gerade darum lasst uns heute hören, was der Gott Abrahams Isaaks und Jakobs, der Vater Jesu Christi, zuruft: seid Botschafter der Versöhnung an Christi statt, lasst euch versöhnen mit Gott, damit die Versöhnung in der Welt des Hasses eine Chance hat, denn nur so können wir leben: Versöhnt mit Gott, versöhnt mit der geschundenen Schöpfung, versöhnt mit dem Nächsten, versöhnt mit uns selbst. Das ist unser Auftrag in der Welt, das ist die wundervolle Aufgabe die wir haben: Botschafterinnen und Botschafter der Friedens zu sein. Bewegt das in eurem Herzens, schärt das euren Kindern ein, verkündet es laut in der Öffentlichkeit.
Dann dürfen wir uns mir Freude und mit recht “evangelisch“ nennen, Kinder der frohen Botschaft, zum Zeichen für alle Völker. Wir haben besseres als den Hass: wir haben den einen Gott, der die Liebe ist. Oder, hält, nein, wir haben gar nichts. Er hat uns.
Amen