Samstag, 31. Oktober 2020

Pest, Angst und Freiheit. Predigt zum Reformationsfest 2020, Großenritte

 

Zu Beginn des Gottesdienstes:

 

Memorandum der medizinischen Fakultät der Universität Paris, Oktober 1348, zur um sich greifenden Pestepidemie, die als der schwarze Tod über 3 Jahrhunderte hinweg Millionen Todesopfer fordern wird.

 

„Wir, die Mitglieder des Medizinalkollegiums zu Paris, geben hier nach reiflicher Überlegung und gründlicher Durchsprechung des herrschenden Sterbens und Ablebens und nach Erforschung der Meinung unserer alten Meister eine klare Darstellung der Ursachen dieser Pest gemäß den Regeln und Schlüssen der Astrologie und Naturwissenschaft.

Wir erklären somit folgendes: Man weiß, daß in Indien und in den Gegenden des großen Meeres die Gestirne, welche mit den Sonnenstrahlen und der Hitze der Himmelsfeuer kämpfen, ihren Einfluß besonders auf jenes Meer ausüben und heftig gegen seine Gewässer ankämpfen. Daraus entstehen Dämpfe, welche die Sonne verdunkeln und ihr Licht in Finsternis verwandeln. Diese Dämpfe erneuern alle achtundzwanzig Tage den Kreislauf des Steigens und Fallens ohne Unterlaß [...]. 

Falls die Einwohner folgende Vorschriften oder ähnliche nicht beachten wollen, kündigen wir ihnen unausweichlichen Tod an. [...]

Sobald Donner und Hagel es ankündigt, muß jeder auf den Regen gefaßt sein und sich vor der äußeren Luft während des Unwetters und nachher hüten. Man soll dann große Feuer aus Weinreben, aus Lorbeerzweigen oder anderem grünen Holz anzünden, ferner soll man große Massen Weihrauch und Kamillen auf den öffentlichen Plätzen und an stark bevölkerten Orten und im Innern der Häuser verbrennen. [...]

Kalte, feuchte und wässrige Speisen sind größtenteils schädlich. Gefährlich ist das Ausgehen zur Nachtzeit bis um drei Uhr morgens wegen des Taues. Fisch soll man nicht essen; zuviel Bewegung kann schaden; man kleide sich warm und schütze sich vor Kälte, Feuchtigkeit und Regen, man koche nichts mit Regenwasser. Zu den Mahlzeiten nehme man etwa Theriak; Olivenöl zur Speise ist tödlich. Fette Leute sollen sich der Sonne aussetzen. Eine große Enthaltsamkeit, Gemütserregungen, Zorn und Trunkenheit sind gefährlich. Durchfälle sind bedenklich, Bäder gefährlich. Man halte den Leib mit Klistieren offen – Umgang mit Weibern ist tödlich; man soll sie weder begatten, noch in einem Bett mit ihnen schlafen.

Diese Vorschriften gelten besonders für Alle, die an den Gestaden des Meeres oder auf Inseln wohnen, wohin der verderbliche Wind gedrungen ist.“

 

Lesung:

Römer 3, 28-31 

28 So halten wir nun dafür, dass der Mensch gerecht wird ohne des Gesetzes Werke, allein durch den Glauben. 29 Oder ist Gott allein der Gott der Juden? Ist er nicht auch der Gott der Heiden? Ja gewiss, auch der Heiden. 30 Denn es ist der eine Gott, der gerecht macht die Juden aus dem Glauben und die Heiden durch den Glauben. 31 Wie? Heben wir das Gesetz auf durch den Glauben? Das sei ferne! Sondern wir richten das Gesetz auf. 

 


 

Predigt:

Liebe Gemeinde, Schwestern und Brüder im Herrn, liebe Zuschauende und Zuhörende im Live Stream,

Gnade sei mit Euch und Friede von Gott unserem Vater und dem Herrn Jesus Christus!

 

 

Die Reformation war eine Befreiung. Das ist es, was wir feiern und woran wir heute erinnern. Eine Befreiung wovon? In der Lesung haben wir es gehört, in schwerwiegenden Gedanken des Apostels Paulus über Gesetz und Glauben. Was er dort in seiner schwierigen theologischen Sprache sagt, ist aber ein einfacher Gedanke: Das Gesetz, die Regeln, sind für den Menschen da, nicht der Mensch für die Regeln. Dass Gott uns liebt, uns annimmt und uns für immer treu bleibt, hängt nicht davon ab, ob wir die Regeln und Gesetze halten. Er liebt uns bedingungslos, es ist an uns, ihm zum vertrauen. Zwischen Gott und Mensch herrschen Regeln und Gesetze, sondern die Liebe. Und für die steht Jesus Christus, dessen Weg durch Tod und Angst in die Auferstehung ein Weg gegen die Angst und die Verweiflung ist. So hat es Luther erfahren und erlebt, und dieser Impuls ist der Impuls der Reformation: Befreiung von der Angst und die Befreiung der Vernunft von religiösen Voruteilen, Aberglauben und falschem Autoritätsglauben.

Die Vernunft ist nicht mehr die Sklavin des Glaubens, sondern seine Partnerin. Vernunft und Glauben gehen nun Hand in Hand, Glauben und Wissen sind Geschwister, die einander kritisch begleiten und um die Wahrheit streiten. Die aber steht nicht in Büchern, sondern wird durch methodische Erfahrung, Auseinandersetzung und ständige Überprüfung freigelegt. Das ist der Geist der Moderne, die in der Reformation eine ihrer Wurzeln hat. Dem gehe ich in der Predigt nach.

 

Wir haben zu Beginn das Gutachten der Pariser theologischen Fakultät zu der großen Pestepidemie, dem Schwarzen Tod, gehört. Sie brach im Jahr 1347 aus und raffte innerhalb kürzester Zeit Hundertausende, am Ende über fast drei Jahrhunderte gar Millionen Menschen dahin.

 

Und wir haben gehört, wie hilflos die Menschen dem damals ausgeliefert waren, weil die Medizin der damaligen Zeit ein wüster Mix aus Religion. Aberglauben, Autoritätsglauben und wirren Theorien war, die dann auch völlig sinnlose und sogar schädliche Ratschläge gab. Am Ende blieb den Menschen nur Beten, und selbst das half nicht, beten hilft eben nicht gegen das Sterben, sondern gegen die Angst.

Am Ende galt die Pest als eine Strafe Gottes - was die Angst der Menschen nur noch steigerte und sie in den Wahnsinn des religiösen Fanatismus, der Hexenverbrennung, Judenverfolgung und der teilweise völligen Auflösung der Ordnung führte. Das Ganze war, aus heutiger Sicht, sehr unvernünftig, und die Religion spielte da eine unrühmliche Rolle: Die Kirche schürte noch die Angst.

 

Auch zur Zeit von Martin Luther wütete die Pest wieder einmal in Deutschland, und im Jahre 1527 kam sie auch nach Wittenberg. Und dazu hat Luther eine kleine Schrift verfasst, mit dem Titel: „Ob man vor dem Sterben fliehen solle“.

Und Luther antwortete - ganz modern : das hängt von den Umständen ab! Niemand ist verpflichtet, sich und andere unnötig in Gefahr zu bringen.

Allerdings unter einer Bedingung: Für das Wohl der Nächsten muss gesorgt sein. Die ganze Anstrengung muss, bei aller Sorge um die eigene Gesundheit, dahin gehen, Menschen nicht im Stich zu lassen und, wie wir heute sagen würden, die notwendige Balance zwischen der Sorge für sich und die Sorge für den andern zu finden. Und so gibt er ganz nüchterne Ratschläge:

Die Friedhöfe sollen aus den Städten verlegt werden, damit sie nicht ein Ort des Unheils werden; es sollen Krankenhäuser aus der öffentlichen Kasse eingerichtet werden und eine Fürsorge organisiert. Und dann, wir hören es wörtlich,

 

„Wenn  Gott tödliche Seuchen schickt, will ich Gott bitten, gnädig zu sein und  der Seuche zu wehren. Dann will ich das Haus räuchern und lüften,  Arznei geben und nehmen, Orte meiden, wo man mich nicht braucht, damit  ich nicht andere vergifte und anstecke und ihnen durch meine  Nachlässigkeit eine Ursache zum Tode werde.

Wenn  mein Nächster mich aber braucht, so will ich weder Ort noch Person  meiden, sondern frei zu ihm gehen und helfen. Siehe, das ist ein  gottesfürchtiger Glaube, der nicht tollkühn und dumm und dreist ist und  Gott nicht versucht.“

 

Das klingt sehr vernünftig. Und sehr vernünftig ist es auch, nicht in ein falsches und hochmütiges, dummdreistes Gottvertrauen zu verfallen und zu meinen, dem Frommen könne nichts passieren. Das wäre nach Luthers Sicht geradezu gotteslästerlich!

Das ist schon ein sehr anderer Ton als der des Pariser Pestgutachtens! Das ist der Ton, mit dem Reformation die Kirche und den Glauben, am Ende aber die gesamte Gesellschaft aus der Enge eines Glaubens, der auf Angst beruht, in die Freiheit eines Glaubens führte, der auf Vertrauen beruht und die Vernunft einsetzt.

 

Nun wissen wir heute so unendlich viel mehr und Besseres über die Herkunft, die Verbreitung und die Bekämpfung der Seuchen.

Die Befreiung der Vernunft, die nun frei war, nicht mehr mit der Bibel in der Hand die Welt zu erforschen, sondern auf die Fähigkeiten des Menschen zur Erkenntnis und zu Wahrheit zu vertrauen, hat uns Möglichkeiten des Lebens in die Hand gegeben, von der Luther nicht einmal träumen könnte und für die wir Gott nicht genug danken können.

Wir verstehen heute die Seuche nicht mehr als Strafe Gottes, sondern als Herausforderung an unsere Vernunft und unsern Glauben.

Sie ist eine Katastrophe wie andere auch, halb naturgemacht, halb menschengemacht, und wie andere Katastrophen fordert sie unsere Solidarität, unseren Gemeinschaftssinn und unser Vertrauen heraus.

Wir sind frei, uns nach dem zu richten, was vernünftig ist.

Luther sagt einmal ganz zugespitzt: die Christen machen neue 10 Gebote, wenn es die Zeit erfordert. Das Gesetz muss dem Menschen dienen, und die Liebe ist der Prüfstein! So richten wir das Gesetz auf, wie Paulus schreibt, das Gesetz der Liebe.

Und vernünftig ist es, auf die Wissenschaft zu hören und mit ihr um die Wahrheit zu streiten, vernünftig ist es, den Erkenntnissen der letzten 200 Jahre zu folgen, die uns so viel Segen gebracht haben, dass wir oft vergessen, wie zerbrechlich unser Leben ist.

Vernünftig ist es aber auch, auf Gott zu vertrauen! Das ist nämlich kein Gegensatz! Also heißt die Devise, die wir aus dem Impuls der Reformation aufnehmen: Auf Gott vertrauen und vernünftig sein. Luther hätte heute, dessen bin ich mir ziemlich sicher, harte Worte für den Leichtsinn und das Geschwätz gefunden, und vermutlich zum Maskentragen, zur Quarantäne, zur Hygiene geraten, zur Zurückhaltung in den Kontakten, denn es geht  geht um das Wohl des Nächsten und das Gemeinwohl: das wir anderen nicht durch unsere Nachlässigkeit ein Grund zum Tode werden!

Darum tun wir als Kirche gut daran, das auch in besondere Weise zu tun und unseren Beitrag zu leisten und so zu Zeugen für die Freiheit zu werden, die Gott uns schenkt. Wir halten uns an die Regeln nicht aus Zwang, sondern aus Freiheit und Einsicht.

Wir wissen, dass gemeinsames Singen gefährlich ist. Wir wissen, dass größere Menschenansammlungen gefährlich sind. Wir wissen, wie gefährlich der zu enge Kontakt ist.

Wir wissen, dass wir aus dieser Pandemie nur herauskommen, wenn wir auch bereit sind, Opfer zu bringen - aber was zählen die gegen Menschenleben? Und das größte Opfer, das wir werden brngen müssen, ist die zu schüzten, die Opfer bringen müssen bis an den Rand ihrer Existenz, die unter dem Lockdown leiden und in ihrer Lebensgrundlage bedroht werden. Es wird auch darum gehen, unseren Wohlstand dadurch zu wahren, dass wir ihn verteilen. Das wird die eigentliche Herausforderung werden!

Nicht Furcht und Sorge sollen uns bestimmen, aber auch nicht Gleichgültigkeit und Schulterzucken, nicht Panik und wirres Geschrei sollen uns bestimmen, auch nicht Zorn und Wut, sondern Nüchternheit, Besonnenheit und Maßhalten.

Der Verzicht auf den Gottesdienst, wie wir ihn kennen, der Verzicht auf den Gesang, der Verzicht auf enge, auch körperliche Gemeinschaft kommt uns hart an und trifft uns ins Mark.

Aber unser Heil hängt nicht daran. Die Kirche hat schon ganz andere Katastrophen überlebt, für Selbstmitleid und Gejammer gibt es keinen Grund. Trauer ja, Jammern nein!

Aber es gibt Grund zum Vertrauen: daran hängt unser Heil, nicht an Regeln und Gesetzen. Und Vertrauen führt in die Freiheit: Die Freiheit, unseren Glauben so zu gestalten wie die Zeiten es zulassen. Jetzt, in der Zeit der Seuche, bewährt sich die Kirche als Sorgegemeinschaft: Sorge für uns, Sorge für den Nächsten, Sorge für die Gesellschaft.

Wenn wir als Kirche uns an diese Regeln halten, ist das nicht Staatshörigkeit oder Untertanengeist, wie oft geschwätzt wird, sondern Vernunft, die aus der Liebe geboren wird. So, liebe Gemeinde, liebe Schwestern und Brüder, liebe Mitmenschen, so halten wir das Erbe der Reformation in Ehren:

Wir folgen der von der Angst befreiten Vernunft, die nach dem Wohl des Menschen fragt. Gott gebe uns dazu seinen Geist und lehre uns recht beten!

Und wir freuen uns jetzt schon darauf, dass wir auch aus diesem finsteren Tal zum frischen Wasser geführt werden.

Und ich freue mich schon auf den ersten Gottesdienst, den wir wieder in voller Pracht und Glanz feiern können, wann immer das sein wird.

Bis dahin aber: Bleibt vernünftig, um Gottes und der nächsten Willen, haltet Euch an die Regeln, nicht, weil sie von Gott kommen, sondern weil sie vernünftig sind und Ausdruck der tätigen Nächstenliebe.

Und dankt Gott für den Segen der Wissenschaft, die es bisher geschafft hat, diese Seuche nicht zu einer Katastrophe werden zu lassen und uns aus dem Dunkel der wirren Theorien geholt hat, die wir am Anfang gehört haben.

Lasst uns, in aller Freiheit, alles dafür tun, dass es so bleibt. Gott ist mit uns, er ist unsere feste Burg, nicht unser Gefängnis.

 

Amen.  

Freitag, 16. Oktober 2020

Das Jahr, in dem Weihnachten verboten wurde.

 

Das Jahr, in dem Weihnachten verboten wurde. Eine Vision.

Roland Kupski, vermutlich 1996

Eines Tages geschah es.

Weihnachten wurde verboten. Als Folge des Kruzifixurteiles wurden das öffentliche Aufstellen, Verkaufen und Verbreiten von Weihnachts­symbolen aller Art, von Dekoration und Lampchen, von Tannengrün und Weihnachtsrot, Engeln und Krippen unter Andro­hung von Ge­schäftsschließungen und hohen Bußgeldern gesetzlich untersagt. Weih­nachtsfeiern, auf denen weihnachtliches Gebäck gereicht, fromme Worte gesprochen und saisonale Lieder abgesungen wurden, sollten im Vorkommensfalle von der Polizei aufgelöst wer­den, die Veranstalter in Beugehaft genommen und die Teilnehmer erkennungsdienstlich behandelt werden. Schnüffeltruppen der Gesundheitsämter gingen durch die Häuser, und wo es nach Plätzchen duftete, wurde eingeschritten. Lastwagen voller Weihnachtsbedarf aus der ganzen Welt wurden bereits an der Grenze abgefangen. Die volkstümliche Hitparade enthielt nicht ein ein­ziges "Vom Himmel hoch" oder "Heidschi bum beidschi", der Dresd­ner Kreuzchor sang "Oh Haupt voll Blut und Wunden" als Höhepunkt seines Dezember­konzertes, und die Kurrende führte nicht das Bach'sche Weih­nachtsoratorium auf, sondern die Kantate "Ich habe genug" von Jo­hann Sebastian Bach.

Den Pfarrer und Pfarrerinen wurde am 1. Dezember schriftlich das Abhalten von Weihnachtsogtttesdiensten untersagt, die weihnachtli­che Urlaubssperre wurde aufgehoben und alle Pfarrer und Pfarrerin­nen aufgefordert, zu verreisen. Im Bayerischen Wald und anderen Ski- und Wandergebieten war in Folge davon kaum noch ein Zim­mer zu bekommen.

Als Predigttexte wurden verordnet ein Text des Propehten Amos (Amos 5,21): "Ich bin euren Feiertagen gram, spricht der Herr, und mag eure Versammlungen nicht riechen. Tu weg von mir das Geplärr deiner Lie­der, denn ich mag dein Harfenspiel nicht hören. Es ströme aber das Recht wie Wasser und die Gerechtigkeit wie ein nie versiegender Bach!"

Am 23. 12. wurden zur Vorsicht die Kirchenschlüssel eingezogen und dem Landrat übergeben, wi­despenstige Küster und Küsterinnen kamen in Beugehaft.

Weihnachten war verboten.

Und was geschah? Die Menschen atmeten auf. Endlich freie Zeit in diesen Wochen. Endlich war der Geschenkestress zu Ende. Nirgendwo dudelte Weihanchtsmusik schon im Oktober, nirgends mußte stunden­lang herumtelefoniert werden, um Termine für Weihanchstfeiern zu machen und die Verwandtschaft zusammenzu­trommeln. Bürgermeister, Pfarrer und Vereinsmenschen hatten ein paar freie Abende, an denen sie Kegeln gingen oder Fernsehen guckten, falls sie nicht einfach einen Abend lang mit der Familie zu­sammensassen, ohne etwas sogenanntes Nützliches zu tun. Die Frommen versammelten sich heimlich zum Ge­bet und zu Klagegot­tesdiensten, denn war Advent nicht eine Bußzeit, ein Zeit der Ein­kehr gewesen? Und weil es dunkel war und still in den Städten und auf den Strassen, kamen viele zum Nachdenken, trauten sich, sich zu erinnern und auch den Kummer und die Sehnsucht nach vergan­genen Zeiten auszuhalten. Und sie spürten, daß es ihnen guttat, was sie sonst fürchteten, und vielen fanden in den stillen, dunklen Nächten wieder den Schlaf, den sie verloren hatten.

Die alten Menschen fingen an, sich in der freigewordenen Zeit zu besu­chen, Eltern und Kinder gingen ins Schwimmbad oder machten sonst etwas Schönes.

Zwei Wochen vor Weihnachten aber begann etwas Merkwürdiges. Die Kinder spürten, daß mit den Erwachsenen etwas nicht stimmte, und sie fragten: "Was ist denn los?" Und die Erwachsenen fingen an zu erzählen, aber leise, flüsternd, denn man wußte ja nie, ob nicht ein Weihnachtsspitzel in der Nähe war: "Früher feierten wir in diesen Wochen ein tolles Fest, Weihnachten genannt. Wir stellten einen Weihnachtsbaum auf und sangen Lieder, wir gingen in die Kirche, wir buken Plätzchen und ganz besondere Kuchen". Und die Kinder frugen weiter: "Und warum das? Wozu?" Und die Erwachsenen schauten sich an, und merkten plötzlich: so genau wußten sie es gar nicht. Sie kramten heim­lich, nachts, bei Licht von Taschenlampen und vorge­zogenen Vorhängen, ihre Bibeln und ihre Kinderbücher wieder her­aus und lasen es nach: "Stimmt ja, das hatte doch etwas mit Gott zu tun, war da nicht nicht die Geburt Gottes in der Welt?" "Gott, wer ist das, kann der denn geboren werden?" frugen die Kinder weiter, wie sie so sind, und die Erwachsenen sahen sich in die Augen und merkten: darauf konnten sie nun schon gar nicht mehr antworten. Heimlich traf man sich, getarnt als Sitzungen des Personlarates, des Gemeindevorstandes, als Jahres­hauptversammlung traf man sich bei Glühwein - der aber nicht Glühwein genannt wer­den durfte - und sprach darüber, was Weihnach­ten war und ist. Die alten Leute wurde auf­gefordert zu erzählen: "Wie war das denn da­mals, als Weihnachten noch ein christliches Fest war" - und sie be­richteten, und man erinnerte sich. Den Kin­dern wurde aber so weinig wie möglich erzählt, damit sie nicht in der Öffentlichkeit herumschwätzen und die Eltern in Schwierigkeiten brach­ten. Geschäftsleute orderten heimlich Weihnachtssachen, aber nur ganz kleine Dinge, die sie unter größter Gefahr aus dem Ausland herein­schmuggelten oder im Schutze der Nacht anfertigen ließen. Und nur gegen ein Losungswort: "Heilige Nacht" wurde unter dem Ladentisch etwas davon verkauft.

Die Vorhänge wurden vorgezogen, in der Nacht wurden Plätzchen ge­backen, bei geöffneten Sauerkrautfaß, damit niemand den Duft riecht. Die Gemeindbriefe wurden mit Zitronensaft geschrieben, und nur wer sie unter das Bügeleisen legte, konnte die Weihnachstbotschaft nachlesen; die wenige Briefe, die es deswegen gab, wurden wie kostbare Kaßiber aus einer anderen Welt weitergereicht, fo­tokopierte Blätter gingen von Hand zu Hand, heimlich wurden Komitees zur Planung des Widerstandes gegründet. Die Pfarrer und Pfarrerinnen verreisten zum Schein, kehrten aber alle am 20. 12. wieder zurück und zogen bei Ihren Küstern ein, um in aller Stille Weihnachtsgottesdienste vorzubereiten. Die Kinder der Kurrende trafen sich in Zivil und wie zufällig im Altersehim und im Gemein­dehaus, im Krankenhaus und ihren Häusern und sangen vorsichtig, leise, ein Weihnachtslied. Die Kinder waren verrückt vor Aufregung, denn sie spürten: etwas ganz und gar Geheimnis­volles war da am Gange, am 24.12. wird irgendetwas Ungeheures ge­schehen, man munkelte etwas von Geschenken und gemeinsam Singen und von Geschichten aus der Bibel, was mag das bloá sein? Und die vielen, vielen Menschen, die früher unter Weihnachten litten, weil es für sie das traurigste, entzsetzlichste und schwerste Fest des Jahres war, sie trafen sich nun und sprachen darüber, daá Weihnachten sie eigen­lich immer traurig gemacht hat, daß sie das aber nie sagen durften, und es bildeten sich heimliche Gesprächskreise: "Trauer an der Weihnacht", und sie trauten sich nun - in aller Freiheit - auf die Friedhö zu gehen und zu trauren, denn jetzt war ja plötlzlich keine Freude mehr verordnet. Und all die Familien, die sich immer an Weihnachten gestritten haben, weil sie es einfach nicht aushielten, vier füf Tage untäig zu­sammengepfercht zu sein zu einen Fest, das kaum einer mehr verstand, wurden plözlich verschworene Gemein­schaften, zusammengehalten durch das Gefül, etwas Verbotenes, aber ganz und gar Wichtiges zu tun. Am 22. 12. erreichte die Spannung ihren Höepunkt, endlich wurde den Kindern erzält, worum es wirklich ging, und völig atemlos hörten die Geschichte davon, wie Gott als ein Kind geboren wurde, um der Welt eine Hoffnung zu bringen und die Menschen zur Liebe und zum Frieden zu bewegen. Und die Erwachsenen höen zum ersten Mal seit ihrer eigenen Kindheit die Geschichte wieder als eine Ge­schichte von Le­ben unter schwierigsten Bedingungen, als eine Ge­schichte von der Freiheit fü die Benachteiligten und Armen, tausend­mal gehöt, aber nun zum ersten Mal verstanden: "Kommet ihr Hirten" wurde zur Losung fü heimliche Weihnachtsversammlungen. Die alten Lieder und Texte wurden auswendig gelernt, denn wer mit einem Ge­sangbuch erwischt wurde, kam drei Tage ins Gefägnis.

Damit die Menschen in Ruhe und in der gebotenen Heimlichkeit ihre Vorbereitungen treffen konnten, machten viele L„den schon am 22. 12. Betriebsferien oder feierten krank, es kehrte nie gekannte Ruhe ein in das Land, die Menschen gingen spazieren und grüßtesich verschwo­ren mit dem alten Engelsgruß "Friede sei mit dir", und daran erkannten sie sich, und die Pfarrer und Pfarrerinnen wa­ren von Morgens bis Abends unterwegs, weil die erinnerungsschwe­ren Tage nach dem Gespräh drägten; und es waren gute Tage fü sie, denn zum ersten Mal konn­ten sie aus vollem Herzen das tun, was sie ge­lernt hatten und wozu sie da sind.

Das ganze Land war von einer Spannung erfült, wie man sie nur kannte, als man noch ein ganz kleines Kind war. Es war wie das erste Mal Weihnachten.

Am 24. 12 geschah es dann, die Menschen versammelten sich vor den Kirchen und vor den Gemeindehäsern, auf den Marktpläzen und in den Parks, sie züdeten Kerzen an und sangen "O du Fröli­che", und die Polizei marschierte auf, aber nach 20 Takten warfen die Polizisten ihre Schilde weg und sangen mit, der BGS ließdie Wasserwerfer in den Himmels sprüen, sodaßdas Wasser als Schnee herabfiel, die Kinder fingen an, sich zu erinnern und die Alten auch, und es wurden schnell ein paar bunte Tüher hervorgekramt und Krippenspiele improvisiert, vor den Kirchentüen standen Gruppen von Jugendlichen und jungen Menschen, von denen viele seit der Konfirmation dort nicht mehr gesehen waren und skandierten in Chor: "Die Tüe mußauf, die Tüe mußauf" und: "Wir sind das Gottesvolk, wir sind das Gottesvolk."

Die Geschätsleute nahmen sich ein Herz und schmükten nur fü diese eine Nacht die Städte und die Fenster und die Häuser, und mit einem Male erstrahlte alles in einem Glanz, der schier überwältigte nach den langen, dunklen Wochen, es war ein Singen und ein sich Freuen, das THW brachte Gulaschkanonen voll Glühwein, das Rote Kreuz verteilte Spekulatius und Stollen, die AWO hatte eine Kapelle besorgt und die spielte "Brüder, zur Sonne zur Freiheit, Schwestern zu Christus em­por" -

und verstohlen wurden aus den Manteltaschen kleine Päckchen ge­holt, so klein, daß sie nicht auftrugen, denn man wußte ja nie, ob nicht doch ein Weihanchstspitzel dabei war und man schenkte wild­fremden Leute etwas Nettes, und die, die Weihanchten immer trau­rig und allein zu Hause sassen, genossen es, unter Menschen zu sein; und sie durften hemmunglos weinen und sich an die Schulten wild­fremder Menschen legen und die Obdachlosen unter den Brücken kamen dazu, alles lag sich in den Armen für diese eine Nacht, und man lud sich ein für den nächsten Tag: "Aber ewartet nicht zuviel, Ihr wißt ja, man bekam ja nichts, wir haben nur Kochwürst­chen und Kartoffelsalat, ihr müßt was mit­bringen", - 

und da öffneten sich plötzlich sich die Kir­chentüren, die Kurrende kam singend heraus, die Pfarrer strahlten und verkündeten das Wort mit nie gekannter Vollmacht, weil sie zum ersten Mal wirklich Zeit hatten, das Fest intensiv mit Gebet und Meditation vorzubereiten; die Orgeln sausten und brausten, daß die Luft zu zittern schien, und es machte sich atemlose Stille breit, als die Stimme der Lektoren und Lektorinnen ertönte: "Siehe, euch ist große Freude wie­derfahren, denn euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist Chri­stus, der Sohn Gottes", und es erhob sich großer Jubel unter den Men­schen, es war Weihnachten geworden wie es noch nie war, in dem Jahr, als Weihnachten verboten wurde. Am andern Tag wurden die Bi­beln herausgeholt, und man las die Geschichte wieder und wieder, und jeder verstand, was Freiheit ist, und jeder ahnte, wie es ist, getröstet zu werden in dieser Nacht, und jeder spürte das Geheimnis dieser Nacht, das für Jahrzehnte vorher vom Rummel übertont und vom falschen Glanz der Lichter überstrahlt worden war, und das gesparte Geld wurde gesammelt und nach Bosnien ge­schickt und nach Rußland und nach Afrika, und als eine Woche später die Danktelegramme eintrafen, als die Fernseher voll von den Bildern überglcklicher Menschen waren, die auf einmal in dieser Zeit zu essen und trinken hatten, die auf einmal ganz körperlich spürten, daß Weihnachten das Fest der Liebe und der Solidarität ist, als die Telegramme eintrafen voller Dank und Freude, brachen alle in Tränen aus, denn das war das schönste Geschenk, das uns je ge­macht wurde, keiner hatte ein Geschäft gemacht und doch waren alle reich geworden, das alles geschah in dem Jahr, als Weihnachten verbo­ten wurde.