Donnerstag, 31. Oktober 2024

Drei Nägel. Predigt zum Reformationstag 2024. Letzte Predigt im aktiven Dienst.

 

Kein Mensch ist vor Gott gerecht,  weil er das Gesetz befolgt. Vielmehr erkennen wir erst durch das Gesetz, was Sünde ist. Der Mensch wird gerecht durch den Glauben. Römer 3, 20, Basisbibel.

Liebe Gemeinde!

Einen einzigen Vers habe ich ausgewählt aus dem Brief an die Römer, und es ist der Vers, der für mich alles enthält, was für mich als Christenmensch wichtig ist, wenn man so will: meine Berufung.

Und er ist zugleich, und darum passt es, ein Schlüsselvers für den heutigen Tag: Es war einer der Verse, der Martin Luther zum Reformator machte.

Und drittens: In diesem Vers steckt auch die Deutung unseres christlichen Schlüsselsymbols: was das Kreuz bedeutet.

Meine Berufung, Martin Luthers Durchbruch, das Kreuz Jesu. Von ihnen will ich sprechen. Sie verdichten sich für mich im Symbol des Nagels : darum die drei Nägel.

Der erste Nagel: Das Kreuz Jesu

Vielen Menschen ist das Kreuz unheimlich, sie finden es abstoßend. Und das aus zwei Gründen.

Der erste ist sehr schwerwiegend und hat mich ein ganzes Leben lang beschäftigt: Im Namen und unter dem Zeichen des Kreuzes sind abscheuliche Verbrechen begangen worden. Das Kreuz ist für viele Menschen das Symbol für alles, was in, an und mit der Kirche schiefgelaufen ist. Und wir tun, gerade am Reformationstag, gut daran, uns das immer wieder vor Augen zu halten.

Eine Evangelische Kirche, das war mir mein Pfarrerleben lang wichtig, ist keine Heilsanstalt, kein Institut der besseren Menschen, der besonders Berufenen, Erleuchteten und Befähigten. Sie ist eine Organisation, die dafür sorgt, dass die frohe Botschaft verkündigt wird. Dafür sind wir da. Als solche ist sie eine menschliche Organisation, sie unterscheidet sich darin in nichts von der AOK oder einer Versicherung. Und das heißt auch: Sie ist fehlbar, sie ist in ihrem Möglichkeiten so begrenzt, wie Menschen nun einmal begrenzt sind. Auch die Kirche steht unter dem Kreuz wie alle Menschen, ja die ganze Schöpfung.

Ich glaube, das ist der tiefere Grund, warum das Kreuz für viele Menschen so schwierig ist. Es erinnert uns daran, was wir sind: sterbliche Menschen.

Als solche aber sind wir von Gott geliebt, der nicht mit Gewalt auf Gewalt antwortete, sondern mit noch mehr Liebe, symbolisch gefasst im Bild der Auferstehung. Hinter dem Kreuz geht es weiter. Das Kreuz ist nicht das letzte Wort.

So war mir das Kreuz immer ein Zeichen der Hoffnung. Mein Leben ist geprägt von Verlusten, es ist geprägt von der Geschichte meiner Eltern, die beide früh verwaist die Zeit des Krieges erlebt habe, Geschichten von Flucht und Entwurzelung prägten meine Kindheit, es ist bestimmt vom Verlust vieler Freunde, seit der Grundschulzeit erlebte ich, dass Freunde sterben, eine zerbrochene Ehe in meinen sogenannten besten Jahren, die darum keine waren, lebensbedrohliches berufliches Scheitern samt Zusammenbruch in der Mitte meines Berufslebens – immer war mir das Kreuz ein Symbol, ein Zeichen der unverbrüchlichen Liebe Gottes, der lieber selber die Gewalt auf sich nahm, als selbst gewalttätig zu werden. Das Kreuz ist mir ein Zeichen, dass Leid, Kummer und Scheitern überwunden werden können und zugleich die Wahrheit unseres Leben sind. Das heile Welt Christentum mit Engelchen und Alles-halb-so schlimm-EiaPopeia war und ist nicht mein Ding.

So steht der erste Nagel für das Kreuz, steht für die Gewaltlosigkeit Gottes in einer gewaltvollen Welt, steht für die Zuwendung zu mir, für die ich nichts tun kann, außer sie mir gefallen zu lassen, wie man sich die Liebe gefallen lassen muss. Nicht, weil ich ein guter Mensch bin, liebt mich Gott, sondern weil ich ein Mensch bin. Genau das sagt der Vers aus dem Römerbrief, den ich noch einmal, jetzt freier übertragen, zitiere:

Kein Mensch von Gott geliebt, weil er sich an die Regeln hält, sondern in unserem Scheitern erkennen wir erst, wie es um uns steht: Nur durch Vertrauen bleiben wir bei Gott.

Vertrauen. Das war die große Entdeckung Martin Luthers. Er war ein von Angst geplagter Mensch, geplagt von der Angst vor Gott, der ihm in seiner Zeit nur als Richter begegnete, der die Menschen bestraft und belohnt, wie sie es verdient haben. Er spürte, dass es gar nicht möglich war, diesem Anspruch gerecht zu werden. Er wurde Mönch, um ein besonders gutes und gottgefälliges Leben zu führen, und das machte alles nur noch viel schlimmer. Er geriet in die Fänge eines abscheulichen Leistungsdenkens. Wie ein Kind, das verspricht, immer artig zu sein, weil es Angst vor Strafe hat oder Angst, die Liebe seiner Eltern zu verlieren, quälte er sich. Er bestrafte sich, er richtete sein ganzes Leben an dem aus, was ihm als Gebot Gottes vermittelt wurde – und scheiterte. 

Er studierte Theologie, um dem auf den Grund zu gehen, doch je tiefer er in die Bibel eindrang, um so schlimmer wurde seine Angst. Aus jeder Zeile grinste ihm der fruchtbareGott entgegen, und was immer er tat: Es wurde nur noch furchtbarer. Bis er, nach langen Jahren des Ringens, die ihn auch körperlich kaputt machten, den Gedanken im Römerbrief entdeckte, den wir gerade hörten. Der Gerechte wird aus Glauben leben. Aus Glauben! Und Glauben meint nicht sklavischen Kadavergehorsam und gute Werke tun, sondern Vertrauen. Vertrauen auf die Liebe Gottes. Nicht ich muss Gott gerecht werden, sondern Gott wird mir gerecht. Je weiter ich mich von ihm abwende, um so näher kommt er mir, nicht, um mich zu bestrafen, sondern um mich zu befreien.

Das Leben, so Luthers Entdeckung modern formuliert, ist keine Casting-Show und kein Olympiastadion, in der die Guten belohnt und die Bösen von Gott bestraft werden, mit no chance, zu bestehen. Sondern für das Leben gilt, was Jesus sagt, mein Konfirmationsspruch: Jesus Christus spricht, ich lebe, und ihr sollt auch leben! (Joh 14,18). Am Ende ist das ein ganz einfacher Satz. Ihr sollt leben! 

Das war Luthers Erkenntnis. Die musste er der Welt mitteilen. Sie machte ihm schlagartig deutlich, dass eine Kirche, die Menschen Angst macht, nicht die Kirche Gottes ist, sondern, wie er es formulierte, die Kirche des Teufels. Diese Erkenntnis packte er in die 95 Thesen, die er zur öffentlichen Diskussion stellte, in dem er sie am Vorabend des Allerheiligenfestes 1517 an die Tür der Schlosskirche in Wittenberg nagelt.

Dafür steht der zweite Nagel: Für die Befreiung der Kirche von einem Gottesbild, das Angst macht, anstatt zu ermutigen. Auch für Luther wurde das Kreuz zum Zeichen der Befreiung.

Wir können uns als Kirche abstrampeln, soviel wir wollen – und wir strampeln gerade sehr – ohne Vertrauen wird das zu nichts führen außer zu Angst, Verzweiflung und Mutlosigkeit. Ohne Vertrauen werden wir festgenagelt auf unsere Leistungen, und das kann nicht gutgehen.

Wir hören noch einmal den Vers aus dem Römerbrief:

Kein Mensch von Gott geliebt, weil er sich an die Regeln hält, sondern in unserem Scheitern erkennen wir erst, wie es um uns steht: Nur durch Vertrauen bleiben wir bei Gott.

Und der dritte Nagel: Das ist der Nagel, an den ich nun meinen Talar hängen werde.

Ich habe meine Berufung zum Christsein, die ich schon früh verspürte, zu meinen Beruf gemacht. Denn Pfarrer-sein bedeutet im evangelischen Verständnis nichts anderes, als für die Verkündigung des Evangeliums freigestellt und bezahlt zu werden. Ich habe, um es mal ganz deutlich zuzuspitzen, damit meinen Lebensunterhalt bestritten.

Und es ist ein toller Beruf, wie es nur wenige gibt. Dass er so gut zu vielen meiner Talente und Interessen passte, war noch das Sahnehäubchen obendrein, die mir den Umgang mit den weniger leichten Aufgaben, wie z.B. Bauen, Verwalten, Umgang mit Geld - erleichterte.

Aber ich hatte ja auch immer Menschen um mich herum, die besser konnten, was ich nicht konnte. Pfarrer konnte ich jedenfalls immer nur als Teamplayer sein, wenn auch vielleicht manchmal als ein anstrengender Teamplayer, mein lockeres Mundwerk war nicht immer hilfreich.

Das tat ich nun 38 Jahre im Dienst, auf wahrlich vielen verschieden Stellen – ich habe 16 Urkunden in meinem Aktenordner – getan. Und wie jeder Beruf, hat auch der ein Ende und eine Zeit der Ruhe, die ihm zusteht.

Ich habe getan, was ich konnte, und leider auch vieles nicht getan, was ich hätte tun können und oft auch getan, was ich besser nicht hätte tun sollen.

Wie es jedem geht, der seinem Beruf mit Leidenschaft nachgeht, ob er nun Architektin, Müllmann, Ärztin oder Ingenieurin ist. Ich habe Höhen und Tiefen erlebt, Scheitern und Gelingen, ich habe Sachen richtig gut hinbekommen und andere gründlich vermurkst, ich war mutig und feige, ich war voller Hoffnung und voller Verzagen. Immer aber, und dafür bin ich dankbar, immer aber wurde ich getragen von dem, was Paulus das Wort vom Kreuz nennt, immer wurde ich getragen von der Hoffnung, dass das Wort Gottes sich seinen Weg bahnt, selbst dann, wenn ich ihm im Wege stehe.

Immer wurde ich getragen von Menschen, die mich begleiteten und stützten, die mich kritisierten und herausforderten.

Dafür bin ich dankbar. Ich gehe in den Ruhestand, ein wenig vorzeitig aus persönlichen Gründen, ich mache keinen Hehl daraus, dass ich auch ein bisschen müde geworden bin und mich darauf freue, meine Füße hochzulegen.

Aber ich bin auch hoffnungsfroh, denn ich sehe, dass die, die nach mir kommen, den Beruf auf ihre Weise füllen, und vieles davon, was die jüngeren Kolleginnen und Kollegen machen gefällt mir sehr gut. Es wird nicht alles schlechter. In dieses Altmännergenörgel möchte ich nicht verfallen, davor behüte mich Gott!

Und das gilt auch für die Gemeinden. Die Kirche verändert sich gerade rasant. Für manche ist es ein Zerfall, sie werden irre an dem, was gerade geschieht und wollen ängstlich an dem festhalten, was gewesen ist.

Denen möchte ich zurufen: Bedenkt unsere Anfänge! Die Reformation war ein gewaltiger Umbruch, die alles in Frage stellte, was bis dahin für gut und richtig galt. Es waren nur Zufälle und günstige Gelegenheiten so wie ein paar mutige und weitsehende Menschen, die Luther vor dem Scheiterhaufen bewahrten.

Meine Haltung zu all den Veränderungen, an denen ich die letzten Jahre auch als Teil der Kirchenverwaltung meinen winzigen Beitrag geleistet habe, ist völlig klar: Wir brauchen keine neue Reformation, wir brauchen nur die alte Reformation neu zu verstehen.

Ecclesia semper reformanda – die Kirche muss ständig erneuert werden,  formulierte es der Theologe Karl Barth in den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts. Und das ist ein Satz, der mich ein Pfarrerleben lang begleitete. Wer hier Angst hat, dass alles zu Grunde geht, sehe zu, ob er nicht an etwas hängt, was uns letztlich sogar als Kirche geschadet hat: mittelalterliche und behördliche Strukturen, patriarchales Amtsverständnis, moralische Besserwisserei, obrigkeitliches Denken, bürgerliche Privilegien.

Wie sagt doch der Vers aus dem Römerbrief so schön: Kein Mensch von Gott geliebt, weil er sich an die Regeln hält, sondern in unserem Scheitern erkennen wir erst, wie es um uns steht: Nur durch Vertrauen bleiben wir bei Gott.

In diesem Vertrauen hänge ich nun meinen Talar, der nicht Ausdruck einer besonderen Weihe ist, sondern ein Symbol für meinen Beruf der öffentlichen Verkündigung, an den Nagel. Für immer? Naja, man wird sehen. Die Katze lässt das Mausen nicht. Ich gönne mir eine Pause, und dann sehen wir mal, was sich ergibt.

Drei Nägel: Alle drei Symbole der Hoffnung. Auf den ersten Blick sicher nicht, aber ich hoffe, dass sich nach dieser Predigt – und das war immer das Anliegen meines Predigens – der Blick auf diese Nägel verändert hat. Was aussieht wie ein Symbol des Schreckens, entpuppt sich als Symbol der Hoffnung.

Was bleibt? Ich sage hier und heute "Danke" an Euch alle, stellvertretend für all die Menschen, denen ich ein Pfarrerleben lang begegnete: Danke, dass ihr mir zugehört habt. Danke, dass ihr mich getragen und manchmal auch ertragen habt. Ich habe immer aus Gottesdiensten, aus Unterricht und Seelsorge, ja selbst aus meiner Arbeit in der Kirchenverwaltung, mehr mitgenommen, als ich gegeben habe.

Das ist nicht selbstverständlich: Ich gehe ohne Groll, ohne falsche Wehmut und durchaus getröstet.

Und damit kommt der letzte Dank, der wichtigste Dank: Dank an Gott, der mich diesen Weg hat gehen lassen und mir immer sein Kreuz vor Augen gemalt hat als Zeichen der Hoffnung.

Ein letztes Mal der Vers aus dem Römerbrief in meiner Übertragung:

Kein Mensch wird von Gott geliebt, weil er sich an die Regeln hält, sondern in unserem Scheitern erkennen wir erst, wie es um uns steht: Nur durch Vertrauen bleiben wir bei Gott.

Seid gesegnet. Gelobt sei Jesus Christus. Amen.

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