Donnerstag, 29. Dezember 2016

Besonnenheit! Predigt zum Altjahresabend, Jes 30, 8-18




Jes 30, 8- 18

8 So geh nun hin und schreib es vor ihnen nieder auf eine Tafel und zeichne es in ein Buch, dass es bleibe für immer und ewig.

9 Denn sie sind ein ungehorsames Volk und verlogene Söhne, die nicht hören wollen die Weisung des HERRN,

10 sondern sagen zu den Sehern: »Ihr sollt nicht sehen!«, und zu den Schauern: »Was wahr ist, sollt ihr uns nicht schauen! Redet zu uns, was angenehm ist; schaut, was das Herz begehrt!

11 Weicht ab vom Wege, geht aus der rechten Bahn! Lasst uns doch in Ruhe mit dem Heiligen Israels!«

12 Darum spricht der Heilige Israels: Weil ihr dies Wort verwerft und verlasst euch auf Frevel und Mutwillen und trotzt darauf,

13 so soll euch diese Sünde sein wie ein Riss, wenn es beginnt zu rieseln an einer hohen Mauer, die plötzlich, unversehens einstürzt;

14 wie wenn ein Topf zerschmettert wird, den man zerstößt ohne Erbarmen, sodass man von seinen Stücken nicht eine Scherbe findet, darin man Feuer hole vom Herde oder Wasser schöpfe aus dem Brunnen.

15 Denn so spricht Gott der HERR, der Heilige Israels: Wenn ihr umkehrtet und stille bliebet, so würde euch geholfen; durch Stillesein und Hoffen würdet ihr stark sein. Aber ihr wollt nicht

16 und sprecht: »Nein, sondern auf Rossen wollen wir dahinfliegen«, - darum werdet ihr dahinfliehen, »und auf Rennern wollen wir reiten«, - darum werden euch eure Verfolger überrennen.

17 Denn euer tausend werden fliehen vor eines Einzigen Drohen; ja vor fünfen werdet ihr alle fliehen, bis ihr übrig bleibt wie ein Mast oben auf einem Berge und wie ein Banner auf einem Hügel.18 Darum harrt der HERR darauf, dass er euch gnädig sei, und er macht sich auf, dass er sich euer erbarme; denn der HERR ist ein Gott des Rechts. Wohl allen, die auf ihn harren!





Liebe Gemeinde, Schwestern und Brüder im Herrn!



Das sind zugleich sehr harte und sehr klare, aber auch sehr verheißungsvolle Worte, die der Prophet Jesaja dem Volk Israel zu sagen hat. Ich fasse sie mal zusammen: Hört auf mit dem gottlosen Geschwätz, denkt mal einen Moment nach, und dann werdet ihr auch die Gnade Gottes erkennen. Dahinter steht die Erfahrung, dass Menschen, die aus ruhiger Überlegung heraus die Wahrheit aussprechen, es in aufgeregten Zeiten sehr schwer haben. Das kommt uns sehr bekannt vor. Das Jahr 2016 hat uns gelehrt, was dabei herauskommt, wenn an die Stelle von ruhiger Überlegung das Geschrei tritt. Wenn an die Stelle klugen Abwägens die spontane Reaktion tritt. Wenn der Bauch regiert, und nicht der Verstand. Das hat das Jahr 2016 sehr geprägt. Ruhige und besonnene Stimmen hatten es schwer, genaues Hinschauen war nicht gefragt. Als ich den Predigttext zum ersten Mal las, war ich hoch erstaunt. Offensichtlich ist es so, dass wir Menschenkinder genau dann die Besonnenheit verlieren, wenn wir sie am stärksten brauchen. Der Prophet spricht angesichts der Bedrohung durch die assyrische Armee, die mit großer Brutalität über das Land herzufallen droht, man hört schon allenthalben, dass sie quasi vor der Haustür stehen. Rufe werden laut, dass doch etwas geschehen müsse. Die Armee wird aufgestockt, zweifelhafte Bündnisse werden geschlossen und viel Geld fließt in Festungsbau und Rüstung. Die Propheten Gottes warnen davor, weil das auf Kosten der Armen geht und weil es letztlich ein sinnloses Unterfangen ist. Israel ist viel zu klein, um ernsthaft Widerstand zu leisten, und die Bündnisse mit den anderen Großmächten haben sich in der Geschichte immer als ein Missgriff erwiesen, weil sie sich ihren Einsatz am Ende bezahlen lassen, und man faktisch mit dem Teufel einen Pakt geschlossen hat, um den Beelzebub zu vertreiben. Die Propheten sehen aber noch tiefer. Sie sehen, dass hinter dieser Aufregung, hinter diesem Geschrei und hinter diesem Aktionismus verlorenes Gottvertrauen steht. Sie erinnern daran, dass Gott sein Volk bisher immer gerettet hat, wenn es sich ihm anvertraute, wenn es nicht den Kopf verlor, sondern seine Hilfe bei Gott suchte.

Doch die Menschen wollen die einfachen Lösungen, und die einfachste Lösung ist immer die Gewalt. Verhandeln, reden, genau hinschauen sind nicht gefragt, komplizierte Antworten will keiner haben. Sie hören nicht, was Gott ihnen sagen lässt: „Wenn ihr umkehrtet und stille bliebet, so würde euch geholfen; durch Stillesein und Hoffen würdet ihr stark sein. Aber ihr wollt nicht“. Das ist ein klares Angebot Gottes. Es ist ein Aufruf zur Besonnenheit. Denn wer einen Moment innehält, der entdeckt eine große Kraft: die Hoffnung. Wer einen Moment stillehält, der entdeckt die Treue Gottes zu seinem Volk und zieht Kraft daraus. Damit steht der Prophet natürlich gegen die herrschende Stimmung, die Maßnahmen sehen will, Köpfe müssen rollen, schnell muss sich alles ändern. Gott lässt ihnen ausrichten, was dann geschieht: Genau die Vernichtung, der sie damit entgehen wollen, wird über sie hinwegfegen, weil die Unbesonnenheit sie angreifbar macht. Wer auf Aggression mit Aggression reagiert, kommt aus der Aggression nicht hinaus. Wer sich aufstacheln lässt von den Schreiern und Vereinfachern, wird irgendwann gar nicht mehr in der Lage sein, andere Lösungen zu finden.

Können wir aus der Geschichte lernen? Offensichtlich nicht. Besonnenheit, abwägendes Urteil, die gemeinsame Suche nach Lösungen, die nicht aus Gewalt und überstürzten Maßnahmen bestehen, fällt offensichtlich schwer. Ich will gar nicht im Einzelnen aufführen, wie uns das gerade im Jahr 2016 gebeutelt hat und die Stimmung vergiftet. Es wird hier jedem vor Augen stehen. Und es wird auch jedem vor Augen stehen, dass die Worte des Propheten an uns gerichtet sind. Wenn es etwas gibt, was wir als Christen, als Volk Gottes in diese aufgeregte Stimmung einzubringen haben, dann ist es der Ruf nach der Besonnenheit und nach Klarheit. Das ist es ja auch, was Jesus von uns will. Schaut genau hin. Vertraut nicht auf Gewalt und Macht. Fragt nach den Menschen, fragt nach Recht und Gerechtigkeit. Er sucht das Heil der Menschen nicht in großen Aktionen, und schon gar nicht in der Anwendung von Gewalt. Gott durchbrach dieses Spiel von Gewalt und Gegengewalt. Er antwortete auf das Geschrei und den Mord an seinem Sohn mit Vergebung und Hoffnung. Und er rief zum Gebet. Denn das Gebet ist gemeint, wenn er sagt: wäret ihr doch mal für einen Moment still! Ja, liebe Gemeinde, die Frage: was können wir Christen tun? Ist sehr einfach zu beantworten: Im Gebet Hilfe suchen und andere zum Gebet einladen. Im Gebet können wir das Elend der Welt vor Gott ausbreiten, im Gebet nach seiner Gnade fragen. So kann uns das Gebet helfen, zur Besinnung zu kommen und neue, andere Wege zu finden und uns von der Hysterie nicht anstecken zu lassen. Im Gebet sind wir nicht nur Redende, sondern auch Hörende. Stillsein meint auch: hört erst einmal gut zu! Und die Antwort des Wortes Gottes auf Terrorismus und Gewalt kann nicht Gewalt sein. Sondern nur das Recht. Wer auf Gewalt mit Gewalt antwortet, der hat schon verloren. So werden wir aus dem Kreislauf nicht herauskommen. Wir müssen nach den Wurzeln des Übels fragen, und die Wurzel des Übels heißt Ungerechtigkeit. Menschen werden bösartig, wenn sie das Gefühl haben, ungerecht behandelt zu werden, in ungerechten Verhältnissen zu leben, benachteiligt und ausgegrenzt zu sein, Menschen werden aggressiv, wenn sie Gefühl haben, nicht gehört, nicht gesehen und nicht ernstgenommen zu werden. Da müssen wir ansetzen. Das ist der Weg des Glaubens. Das ist nur scheinbar eine einfache Antwort. Es ist in Wahrheit eine schwierige Antwort. Wenn Menschen so verzweifelt und so wütend sind, dass sie ihr eigenes Leben wegwerfen, um damit anderes Leben zu zerstören: dann ist das doch auch ein Hilferuf. Dann ist doch etwas faul dort, wo diese Menschen leben. Dann müssen wir unsere Anstrengungen erhöhen, Gerechtigkeit zu schaffen. Und das geht eben nicht mit pauschalen Parolen. Durch den Propheten lässt uns Gott sagen, was uns helfen kann: Wenn ihr umkehrtet und stille bliebet, so würde euch geholfen; durch Stillesein und Hoffen würdet ihr stark sein. Aber ihr wollt nicht.

Ich glaube, damit ist zum Jahr 2016 viel gesagt, und damit ist auch viel gesagt für das, was wir uns als Christenmenschen für 2017 vornehmen sollten: Ja, wir wollen auf dich hören Gott, lass uns hören, wie Dein Weg aussieht. Wenn wir als Christen zum Frieden in unsere Gesellschaft und in der Welt etwas beitragen können, dann das: Den Ruf nach Gerechtigkeit, nach Besonnenheit und Versöhnung weitergeben. Dass wir damit in der aufgeheizten Stimmung auf Widerstand stoßen, dürfte klar sein. Aber das sollte uns nicht schrecken. Auch Gott hat nicht nachgelassen, nicht einmal der Mord an seinem Sohn konnte ihn davon abbringen, uns Versöhnung, Gnade und Erlösung zu verheißen, wenn wir ihm treu bleiben. Lasst uns diesen Weg gehen: Gott verheißt uns, uns darin zu unterstützen. So kann die Stimme des Glaubens in einer Welt voller Unglauben letztlich nicht anderes sein, als der Ruf zur Vernunft. „Wenn ihr umkehrtet und stille bliebet, so würde euch geholfen; durch Stillesein und Hoffen würdet ihr stark sein. Aber ihr wollt nicht“. Doch, wir wollen, wir wollen, um Christi willen, Herr, hilf uns!

Amen.

Dienstag, 27. Dezember 2016

Predigt 1. Weihnachtstag Mi 5,1-4

Diese Predigt stand bis gestern als "Premium-Predigt" zum Download bereit. Ich habe sie in Haddamar und Heimarshausen (bei Fritzlar, Gemeinde Züschen) etwas gekürzt, gehalten - mit schönem Echo.



5 1 Und du, Bethlehem Efrata, die du klein bist unter den Städten in Juda, aus dir soll mir der kommen, der in Israel Herr sei, dessen Ausgang von Anfang und von Ewigkeit her gewesen ist.
2 Indes lässt er sie plagen bis auf die Zeit, dass die, welche gebären soll, geboren hat. Da wird dann der Rest seiner Brüder wiederkommen zu den Söhnen Israel.
3 Er aber wird auftreten und ]weiden in der Kraft des HERRN und in der Macht des Namens des HERRN, seines Gottes. Und sie werden sicher wohnen; denn er wird zur selben Zeit herrlich werden, so weit die Welt ist. 4 Und er wird der Friede sein.




Liebe Gemeinde!



Eine große Hoffnung wird hier ausgesprochen in hoffnungslosen Zeiten. Eine Hoffnung auf Neuanfang und Wiederaufbau, eine Hoffnung auf eine gerechte Herrschaft und auf eine gute Ordnung. Und sie wird nicht irgendwie und irgendwo ausgesprochen, sie richtet sich nicht an die ganze Welt oder die ganze Menschheit; dann wären es nur große Worte. Sie ist kein leerer Apell, wie wir sie in den letzten Tagen und Wochen so oft gehört haben. Sie ist ganz konkret. Sie nennt den Namen eines Ortes: Das kleine Bethlehem, ein Dorf in der Nähe von Jerusalem, und Ephrata ist eine kleine Sippe darin. Aus diesem kleinen Bethlehem, aus dieser kleinen Sippe soll der kommen, der das Land, nämlich das Israel des siebten Jahrhundert vor Christus, wieder in den Frieden und die Herrlichkeit führen wird.



Gesprochen wurden diese Worte zu einer Zeit, als das Land unter Krieg, Plünderung und Terror litt wie kaum zuvor. Assyrien, der Feind aus dem Norden, dem heutigen Irak, hat mit unglaublicher Rohheit und Gewalt das Land erobert, die Oberschicht entführt, die ohnehin wenigen Schätze geplündert, Menschen versklavt, Städte geschleift, Ernten vernichtet. Die Prophetenbücher von Hosea, Amos Jesaja und Micha geben uns ein anschauliches Bild davon. Wir kennen die Bilder auch. Gerade in diesen Tagen haben wir Bilder von Aleppo vor Augen: die zerbombte Stadt, die verstörten Menschen. Flüchtlinge, die von einer Not in die nächste flüchten, Soldaten, die kaum unter Kontrolle gehalten werden können. Und kaum kann man Freund und Feind auseinanderhalten, immer wieder hören wir von neuen Greueln, sehen wir vor allem das Leiden der Zivilbevölkerung. Bomben und Granaten machen keinen Unterschied. Der Krieg ist ein Elend und der Krieg verursacht Elend. Und eben nicht nur dort, wo er tobt. Sondern bis zu uns reichen die Wirkungen. Die Bluttat von Berlin hat uns das erschreckend nahegebracht, hat auch uns in Ohnmacht, Schock, Wut und Trauer versetzt. Wir müssen ohnmächtig zuschauen. Wir bekommen nur bruchstückhafte Informationen, denen man kaum trauen kann. Denn das erste Opfer des Krieges ist die Wahrheit. Darum zerstört ein Krieg nicht nur Städte und Menschen. Er richtet auch in den Herzen und Köpfen der Menschen Zerstörung an, er sät Hass und Vergeltungswünsche, er sät Rache und Verzweiflung über Generationen hinweg, er streut Verunsicherung und Angst, er erzeugt Geschrei, Gerücht und Lüge.



Darum genügt es nicht, nach dem Waffenstillstand oder nach dem Friedensschluss einfach nur aufzuräumen, oder sich zurückzulehnen, wenn ein Attentäter festgenommen wurde. Es muss mehr geschehen: Die Herzen der Menschen müssen geheilt werden.



Davon spricht der Prophet Micha. Das ist es, was er ankündigt. Nicht die Geburt eines neuen Königs, der neuen Krieg bringen wird. Nicht ein neues Herrscherhaus, das neue Zwietracht und Gewalt bringen wird. Er spricht von einem Neuanfang, der tiefer geht. Selbst die Tage der Schwangerschaft der werden noch Tage des Leidens sein. Aber wenn die Frau geboren hat, wird das anders werden. Dann wird ein Herrscher kommen, der einen neuen, einen anderen Frieden bringen wird: Frieden für die Herzen. Er wird kein Wolf sein, sondern ein Hirte. Er wird nicht nur sein Volk befrieden, sondern die ganze Welt. Dieser König wird aus Bethlehem kommen, aus dem Stamme Efrat: die Zeitgenossen haben das sofort verstanden. Denn aus Bethlehem, aus dem Stamme Efrat, stammte David, der große, erste König des Landes, der das Land geeinigt hat und vor der Gefahr der aggressiven Nachbarn beschützte. Und die Zeitgenossen des Propheten Micha haben in seinen Worten noch mehr gehört: eine beißende Kritik an den Königen nach David. Sie haben es verdorben. Sie haben es, um einen jüdischen Ausdruck zu verwenden, im wahrsten Sinne des Wortes vermasselt. Darum wird Gott mit seinem Volk noch einmal von vorne beginnen, noch einmal aus dem kleinen Bethlehem einen König erwecken, der einen anderen Weg geht. Der Prophet spricht Worte der Hoffnung, die aber zugleich auch Worte des Gerichtes und der Kritik sind: Der Weg von Macht und Gewalt ist der falsche, er führt nur immer wieder von Krieg zu Krieg, von Trümmerstädten zu Trümmerstädten, von Gräbern zu Gräbern. Guernica, Hiroshima, Dresden, Aleppo, Paris, Nizza, Berlin. Wir haben die Bilder vor Augen. Wir hören, wie wahr das ist. Aber wir hören auch von der Hoffnung aus Bethlehem.



Für uns heute hat der Name Bethlehem einen vertrauten Klang. Denn die Prophezeiung hat Jahrhunderte gebraucht, bis sie in Erfüllung ging. Bis in Bethlehem, aus dem Stamm und der Familie Davids, ein Kind geboren werden sollte, mit dem sich alles änderte. Der Neuanfang aus Bethlehem: Das ist Jesus Christus, der König der Herzen. „Fürchtet Euch nicht! Siehe, ich verkündige Euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird: denn euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist Christus, der Herr, in der Stadt Davids“ verkündigen die Engel den Hirten auf dem Felde, und die verstehen die Botschaft sofort. Christus ist geboren: das ist der gesalbte Herrscher, der lang erwartete neue König. Und später singen die Engel: „Ehre sei Gott in der Höhe und Frieden auf Erden bei den Menschen seines Wohlgefallens!“ Gott wird Mensch, damit wir Menschen einander Menschen werden. Mit diesem Kind kam eine Hoffnung in die Welt, die die Welt so vorher nicht kannte. Mit diesem Kind kam Gott selber als barmherziger und gnädiger Gott in die Welt, der die Kranken heilte, die Verzagten aufrichtete und den Sündern vergab, und allen Menschen gilt diese Botschaft. Er richtete ein neues Reich auf, das nicht von dieser Welt ist. Ein Reich des Glaubens, der Liebe und der Hoffnung. Und auch er wurde hineingeboren in eine Welt voller Gewalt und Grausamkeit, ja, er musste Gewalt und Grausamkeit selber erleben. Der Weg von der Krippe führt an das Kreuz. Doch er schlug nicht zurück. Er übte nicht Rache. Er wollte keine Vergeltung. Auf den Ausbruch menschlicher Gewalt am Kreuz, die vor einem unschuldigen und friedfertigen Menschen nicht zurückschreckte, antwortet Gott mit noch größerer Liebe, noch größerer Gnade, noch größerer Versöhnung. Das ist die christliche Hoffnungsbotschaft, die wir an Weihnachten verkünden, und sie ist eine Botschaft für die ganze Welt. Niemals mehr wird im Namen Gottes Krieg geführt werden, und die es tun, sind nichts anderes als elende Verbrecher und Schänder des guten Namen Gottes. Sie vergehen sich an Gott selber, wenn sie Krieg führen in seinem Namen, sie vergehen sich an dem Kind, wie es schon Herodes versuchte, als er alle Säuglinge in Bethlehem töten ließ. Sein Machtinstinkt hatte gerochen, dass dieser König anders sein wird, dass er alle menschliche Macht und alle menschliche Gewalt als Mittel der Macht in Frage stellen wird. Doch es gelang ihm nicht, wie es auch denen nicht gelang, die es nach ihm versuchten, als sie Christus kreuzigten. Die Botschaft von Weihnachten war in der Welt, und sie konnte aus ihr nicht mehr vertrieben werden. Darum tun wir recht daran, dieses Fest so groß zu feiern, und darum tun wir recht daran, diese Botschaft in die ganze Welt zu tragen, ob das den Mächtigen, passt oder nicht. Und wir tun es gerade angesichts von Aleppo und Berlin. Denn noch ist die Welt voller Gewalt. Noch ist das Reich des Friedens nicht endgültig angebrochen. Noch warten wir darauf, dass er endgültig kommen wird und sein Friedensreich aufrichten wird. Derselbe Prophet Micha hat die schönen Worte gesagt. „Dann werden sie die Schwerter zu Pflugscharen machen“. Bis dahin aber haben wir diese Worte vom Frieden unauslöschlich im Herzen. Bis dahin wissen wir, dass Frieden eben mehr ist als Wiederaufbau und Neuanfang. Wir wissen nun, dass Frieden nur sein kann, wo Versöhnung stattgefunden hat. Das ist das tiefe Geheimnis der Weihnacht, die uns so berührt: Versöhnung an der Krippe, Versöhnung angesichts eines hilflosen Kindes, in dem doch alle Macht Gottes leuchtet. Das ist eine Botschaft auch für Aleppo und Berlin und die Menschen dort, aber auch für uns: Wir können, wie die Hirten und die Weisen aus dem Morgenland, diesen Frieden in unsere Herzen holen, wenn wir Gott anbeten und loben und preisen und ihm danken für seine Gnade. Wir sind nicht ohnmächtige Zuschauer, wir können etwas tun: Beten können wir, und aus der Kraft des Gebets Zuversicht schöpfen für die geschundene Schöpfung. Aus dem kleinen Bethlehem, nicht aus dem Palast der Mächtigen, kam und kommt die Kraft, die Welt zu verändern. Im Licht der Weihnacht liegt selbst über den Trümmern von Aleppo und den Toten von Berlin noch der Glanz der göttlichen Herrlichkeit, die uns zum Frieden führen will: „Ehre sei Gott in der Höhe und Frieden auf Erden bei den Menschen seines Wohlgefallens“. Diese Botschaft gilt der ganzen Welt, und sie ist sehr konkret, denn sie hat einen Namen: Jesus Christus. Amen.



















Fürbitte



Lass es Weihnachten werden, Herr unser Gott, in unseren Herzen und in die ganze Welt. Lass alle Welt das Licht erkennen, das uns aus der Krippe leuchtet.



Bewege die Herzen der Mächtigen, einen Frieden zu finden, der mehr ist, als das Schweigen der Waffen.



Bewege die Herzen der Völker, eine Versöhnung zu finden, die Gräben zuschütten und Hass beendet.



Nimm denen die Waffen aus der Hand, die mit ihnen meinen, das Heil der Welt zu finden.



Reiße denen dein Wort aus dem Mund, die damit neuen Hass säen wollen und meinen, sich auf dich berufen zu können.



Stifte Frieden auch unter den Religionen: Lass sie deine Barmherzigkeit erkennen.



Deiner Kirche schenke den Mut, unverdrossen Botschafterin deines Friedens zu sein, der höher ist als unsere Vernunft.



Unsere Gemeinde führe an die Krippe, dass wir innerlich vor dir auf die Knie gehen wie die Hirten und die Weisen.



Den Geschundenen und Gequälten schenke eine neue Hoffnung.



Wir denken insbesondere an die Opfer der Bluttat von Berlin und alle, die davon betroffen sind: Sende Ihnen Menschen, die trösten und Gedanken, die heilen.



Und führe uns zum Gebet, in dem wir uns vereinen als dein Volk aus Völkern, dass die Erde ein Ort des Friedens werde.



Amen.

Freitag, 23. Dezember 2016

Predigt an Heiligabend, 1. TIM 3, 16. Der große Gott macht sich klein





ANSPRACHE 1. TIM 3, 16

16 Und groß ist, wie jedermann bekennen muss, das Geheimnis des Glaubens:

Er ist offenbart im Fleisch,

gerechtfertigt im Geist,

erschienen den Engeln,

gepredigt den Heiden,

geglaubt in der Welt,

aufgenommen in die Herrlichkeit.

 

Groß ist das Geheimnis des Glaubens: er ist offenbart im Fleisch! Und das heißt:

Gott macht sich klein.

Das ist die christliche Botschaft in Reinstform. Und sie ist ganz einfach, sie ist ganz schlicht, so einfach und so schlicht wie die Krippenszene: Der große Gott macht sich klein. Er trägt Windeln. Deswegen wird dieses Detail so betont. Der große Gott trägt Windeln.

 

Ich bin großgeworden in einer Familie von Bauern und Handwerken. Sie betrieben alle Landwirtschaft im Nebenerwerb, wie man heute sagt. Ich bin also großgeworden mit Tieren: Schweine, Enten, Hühner, Kühe, Schafe. Ich schlief schräg über dem Schweinstall. Das Grunzen und Quieken war mein täglicher Begleiter. Ich habe das gemocht. Was ich weniger mochte: die Gerüche. Es stank. Nicht nur nach Mist und Gülle, sondern auch nach säuerlichen Schweinekartoffeln, nach Silage, und von den Kuhställen nebenan der scharfe Geruch von Kuh und Milch. Oft habe ich im Stall gestanden und mir überlegt: Hier ist also Jesus geboren. Der muss doch gestunken haben. War ich drei Minuten im Kuhstall, habe ich drei Tage lang gerochen! wer Kühe kennt, kennt das. Und dann die Geschichte mit den Königen aus dem Morgenland. Die bringen Weihrauch mit. Weihrauch kannte ich. Meine DDR-Verwandtschaft schickte uns immer Räuchermännchen mit Weihrauchkerzen. Ich stand also im Stall und überlegte mir, wie das wohl gerochen hat: Weihrauch und Mist. Und dann kamen ja auch noch die Hirten. Die rochen nach ungewaschen und Schaf. Wie mag es da im Stall gerochen haben? Dann bekam ich einen Bruder. Ich lernte also auch noch den Geruch von Säuglingen kennen. Auf der einen Seite das Süßliche, Milchige das leicht auch etwas Säuerliches bekommen kann, auf der anderen Seite natürlich Windeln. Das ganze Haus roch danach, über Monate.

So also roch es da in Bethlehem. Nicht nach Plätzchen, Glühwein, Gans und Tannenbaum. Es war kein gemütlicher Ort, und für die frisch entbundene Wöchnerin sogar lebensgefährlich.

 

Der große Gott macht sich klein. Wir erzählen da an Weihnachten eine ganz ungeheure Geschichte. Wir erzählen eine Geschichte, die allem, was man so über Gott denkt, krass entgegensteht.

Die Hirten haben das verstanden. Sie haben es natürlich nicht sofort geglaubt, aber sie haben es sich angesehen. Und sie haben verstanden, dass der Engel Recht hatte. „Euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist der Christus“. Der lang verheißene König. Die Armen und die Außenseiter – und genau das waren Hirten damals – haben sofort verstanden. Sie fallen auf die Knie, beten an. Sie haben verstanden, dass Gott zu ihnen gekommen ist, als einer von Ihnen.

Der große Gott macht sich klein.

Die Weisen aus dem Morgenlande aber – die haben lange gebraucht um es zu verstehen. Sie haben einen Stern gesehen: ein König wird geboren, weit im Westen. Sie meinten nämlich, den Willen Gottes aus den Sternen und aus ihrer Weisheit zu erkennen. Und so machen sie sich auf, und wo suchen sie den neugeborenen König? Natürlich dort, wo jeder, der einen Funken verstand hat und was von der Welt versteht, ihn suchen würde: im Palast des Königs.  doch das war ein fataler Missgriff. In Wahrheit hatten sie nämlich überhaupt nichts verstanden. Weisheit führt nicht zu Gott. Weil sie Gott in den Sternen gesucht haben. Ihre Weisheit führte sie in die Irre, denn wir alle kennen die Konsequenzen: Herodes lies alle Kinder unter zwei Jahren in Bethlehem ermorden. Was für ein entsetzliches Gemetzel!

Der große Gott wird klein. Die Weisen fanden am Ende en richtigen Weg: weil Herodes die Schriftgelehrten aus der Bibel vorlesen ließ, woher denn der neue König kommen sollte. Aus Bethlehem, lasen sie beim Propheten Micha, gar nicht weit von Jerusalem. Die Weisen zockelten dorthin, und was sie fanden, wissen wir ja nun. Ich wäre gerne bei ihrer Ankunft dabei gewesen: die erstaunten Blicke! die zugehaltenen Nasen!  Aber sie haben es dann offensichtlich verstanden und ihre Weisheit Weisheit sein lassen: sie glaubten, was sie sahen: Sie huldigen dem kleinen Kid, als wäre es ein König. Und das war er ja auch. Der große Gott, den alle zu kennen meinen,  macht sich klein.

Das nämlich hat Herodes sehr gut begriffen. Er war ein brutaler Gewaltherrscher von der Römer Gnaden, einer der größten Widerlinge der Geschichte. Er geriet in Panik, erst als die Weisen von einem neugeborenen König redeten, aber vollends drehte er durch, als die Schriftgelehrten ihm erklärten: das wird der Nachkomme des Königs David sein, der in Bethlehem geboren werden wird, wie die Propheten sagen, und ein neues Reich aufrichten wird. Keine gute Nachricht für einen Tyrannen. Er verstand sofort: dieses Kind wird die Welt verändern. Gerade weil es so niedrig und so schwach geboren wurde. Der Gott, der hier in der Krippe liegt, ist nicht der Gott der Koppelschlösser und der Kriegsfahnen. Der Gott, der hier in der Krippe liegt ist auch nicht der Gott der Philosophen, der Naturschwärmer und der Weltverbesserer, das ist nur der Schatten von Gott. Der Gott, der hier in der Krippe liegt, ist der Gott, der Mensch geworden ist.

Groß ist das Geheimnis. In der Tat. Und es bleibt für uns immer wieder ein Geheimnis. Immer wieder fallen wir auf unsere Träume von Gott herein, immer wieder arbeiten wir uns an einem Bild von Gott ab, das gar nicht Gott ist, sondern ein Zerrbild unserer Angst und unserer Träume. Der große Gott macht sich klein, nicht, wie er ohnmächtig ist, sondern weil seine Macht die größte Macht ist, die es überhaupt gibt: die Macht der Liebe! Darum wird er Säugling, liegt in der Krippe, zwischen Vieh und Futter, in Gestank und Durcheinander, darum riskiert er sein Leben von Anfang an: damit wir ihn dort sehen und ihn lieben lernen, wie man eben einen Säugling liebt und einen liebenswürdigen Menschen, zu dem der Säugling dann wurde..

Haben wir dieses große Geheimnis wirklich verstanden? Wir vergessen es immer wieder. Zu groß ist die Verlockung der Macht, zu groß ist die Verlockung von Besitz, Erfolg und Rechthaberei, immer wieder fallen wir hinter Weihnachten zurück, immer wieder träumen wir uns einen Gott, der größer ist als wir selbst, weil wir meinen, dass wir dann auch größer sind, immer wieder fallen wir hinter den Glauben zurück. Das hat zu schrecklichen Ereignissen geführt: wenn die Kirche vergessen hat, wie sich uns Gott gezeigt hat und an die Stelle des menschgewordenen Gottes wieder einmal den Popanz unserer Träume von Macht und Gewalt gesetzt hat. Kein Wunder, das viele Menschen sich davon abwenden! Der Gott in der Krippe aber will keine Fanatiker: er will herzliche Menschen.

Darum, meine Lieben, hören wir diese Geschichte immer wieder, Jahr für Jahr, seit 2000 Jahren, darum feiern wir Weihnachten und all die andren schönen christlichen Feste, darum feiern wir jede Woche Gottesdienst, damit wir eine Chance haben, dem großen Gott zu begegnen, der darin groß ist, dass er sich klein macht. Und warum tut er das? Warum wird er Fleisch, warum wird er Mensch? Damit wir lernen, den Menschen zu lieben. Damit wir in jedem Menschen das Ebenbild Gottes erkennen, das Kind in der Krippe. Damit auch wir barmherzig werden, und der Glaube uns zu unserer Menschlichkeit bringt. Die alte Welt, die Welt der Gewalt, der Lüge und der Rechthaberei, die Welt von Krieg und Mord und Totschlag, sie ging an diesem Abend zu Grunde. „Welt ging verloren, Christ ist geboren“, singen wir am Ende des Gottesdienstes. An Weihnachten beginnt, mitten in der alten Geschichte, eine neue Geschichte: die Geschichte der Liebe.

Kommt mit an die Krippe, fallt auf die Knie wie die Hirten und die Weisen, betet ihn an und werdet Teil dieser Geschichte, der besseren Geschichte, der Geschichte der Liebe, denn aus dem erbärmlichen Anfang kommt ein herrliches Ende: der Tod wird besiegt.  Ja, das ist ein Geheimnis. Aber ein öffentliches Geheimnis, das wir Christen hinausrufen in die Welt: Die alte Welt vergeht, weil die neue Welt Gottes angebrochen ist, mitten unter uns. Im Gestank und in der geistigen und weltlichen Armut der Welt leuchtet in einem Kind das Licht des ersten Schöpfungsmorgens, denn er will, wie am ersten Tag, alles neu machen. Das ist unsere Hoffnung, dass ist unser weihnachtlicher Glaube.

Denn groß ist, wie jedermann bekennen muss, das Geheimnis des Glaubens:

Er ist offenbart im Fleisch,

gerechtfertigt im Geist,

erschienen den Engeln,

gepredigt den Heiden,

geglaubt in der Welt,

aufgenommen in die Herrlichkeit.

Amen.

 

Mittwoch, 16. November 2016

Predigtskizze zu Buß- und Bettag, Mt 11, 28-30


Mt 11, 28-30

 Kommt her zu mir, alle, die ihr mühselig und beladen seid; ich will euch erquicken. 29 Nehmt auf euch mein Joch und lernt von mir; denn ich bin sanftmütig und von Herzen demütig; so werdet ihr Ruhe finden für eure Seelen. 30 Denn mein Joch ist sanft, und meine Last ist leicht.

 

Keine Mahnung, kein Schimpfen.

Sondern eine Einladung: an alle! Keine Eingangsbedingen, keine Glaubensprüfung, keine Voraussetzungen außer: die eigene Not kennen.

Nicht an die Frommen, nicht nur an das eigene Volk.

Alle sollen Ankommen bei Jesus

Der Ruf der Barmherzigkeit

Barmherzigkeit:

Zuwendung und Wertschätzung gegenüber Geschöpfen in Not

Und in Not sind wir alle. Es ist die Not der Gottesferne.

Wie kann man sie überwinden?
In dem man Jesu Ruf annimmt und sich von ihm zur Barmherzigkeit führen lässt, die die Last und die Not der anderen sieht – und in ihr die eigene.

Drei Beispiele für Barmherzigkeit, die unglaublich aktuell sind.
- Mt 25: die sieben Werke der Barmherzigkeit.

Hungrige speisen, Durstigen tränken, Fremde beherbergen, Nackte kleiden, Kranke pflegen, Gefangene besuchen, Tote  begraben, was ihr getan habt einem der geringsten unter meinen Brüdern, das habt ihr mir getan: Gottesbegegnung im einfachen Tun des Guten.

Lk 10: Der Barmherzige Samariter. Hilfe ohne wenn und aber, Hilfe ohne Fragen, nachhaltige Hilfe.

Mt 20: Arbeiter im Weinberg.

Schaust du so scheel, weil ich gütig bin? Wem geschieht Unrecht, wenn anderen Gutes geschieht?

Umkehr, Buße meint: Umkehr zur Barmherzigkeit.

Beten meint: Beten um die Kraft dafür.

Das sanfte Joch: keine Heldentaten, sondern einfaches Tun. Ankommen bei der Menschlichkeit, Einsetzen der Mittel, die man hat (wie der barmherzige Samariter):

Sorgfalt, Gelassenheit, Tatkraft.

Montag, 31. Oktober 2016

39 Thesen über die Grundlagen und Regeln einer christlichen Ethik

Das überraschende Ergebnis einer intensiven Diskussion mit meiner damaligen (2008) 10. Klasse (!) über einen Ausschnitt aus dem "Sermon von den guten Werken" zum siebten Gebot am 31. Oktober. Anlaß: die Bankenkrise! Eine Stunde des Verstehens für alle Beteiligten, wie wir sie selten hatten. Meine Hommage an den Reformationstag 2016. Ich bin gerade mal ein halber Luther....;).
 
 
39 Thesen über die Grundlagen und Regeln einer christlicher Ethik[1]

  1. Die Ethik des christlichen Glaubens fragt nach dem Willen Gottes als Grundlage menschlicher Handlungen. Darin ist sie eine religiöse Ethik (sola fide).
  2. Der Wille Gottes ist offenbart im „Worte Gottes“, gesprochen durch die Propheten („Altes Testament“) und die Apostel („Neues Testament“), also in der Heiligen Schrift und ausgelegt, tradiert und immer wieder neu interpretiert durch die Gemeinschaft der Heiligen, der recht verstandenen Kirche. Die Heilige Schrift ist also die Quelle der Ethik (sola scriptura).
  3. Eine christliche Ethik ist christlich dadurch, dass sie sich an Jesus Christus orientiert, in dem und durch den Gott zum Menschen in einer Haltung des absoluten Wohlwollens spricht. Auf ihn weisen die „Propheten“ hin, von ihm kommen die „Apostel“ her (solus christus).
  4. Grundlage aller christlicher Ethik ist also eine Kommunikation Gottes mit dem Menschen. Gott durchbricht von sich aus in einem Akt der freien Gnade das Schweigen, das durch die Sünde (die Gottesferne) des Menschen entstanden ist. Er beendet die Gottlosigkeit, in der sich jeder Mensch vorfindet und in der er sich wahrnimmt (sola gratia).
  5. Gott will, so schon die Propheten des Alten Testamentes, nicht den Tod des Sünders (des Gottlosen), sondern dass er lebt (Hes 18,23). Gott verachtet die Sünde, aber nicht den Sünder und die Sünderin. Und er will nicht nur, dass der Mensch lebt, sondern dass er gut lebt.
  6. Ein gutes Leben ist ein Leben in der Hoffnung, das bedeutet ein Leben ohne Angst (1. Joh 4,17).
  7. Ein Leben ohne Angst ist ein Leben in Freiheit (Gal 5,1).
  8. Die zentrale Tat Gottes ist daher die Befreiung des Menschen aus der Angst vor Strafe und vor den negativen Folgen seiner Handlungen (Rom 8,28).
  9. Glaube ist das feste Vertrauen darauf, dass genau das Gottes Willen ist
    (Heb 1,11).[2]
  10. Die höchste Form der Freiheit ist nach christlichem Verständnis die Liebe, die nichts anderes will, als ein gutes Leben des Anderen, dem wir durch unsere Zuwendung zum Nächsten werden (Lk 10,25ff).
  11. Christliche Liebe ist kein Gefühl, sondern eine Haltung gegenüber sich selber, gegenüber Gott und gegenüber dem Nächsten. Es ist die Haltung maximalen Wohlwollens.
  12. Die Form der von Gott gewollten christlichen Nächstenliebe ist folglich der Dienst. Die höchste Form des Dienstes ist die, die aus Einsicht und Selbstbestimmung, also aus Freiheit geschieht. Ein wahrer Diener ist kein Knecht, sondern ein Herr und Haushalter (1. Petr. 4,10).
  13. Diese Freiheit hat der glaubende Mensch, weil er sein Handeln nicht an der Frage nach Lohn und Straf bzw. Erfolg und Misserfolg ausrichten muss, sondern sich einzig an der Frage der Angemessenheit und der Richtigkeit der Entscheidung für den Nächsten orientieren darf. Das Gute wird gesucht und getan, weil es das Gute ist, das dem Nächsten zu Gute kommt.
  14. Das Gute aber ist strittig. Gute Handlungen verstehen sich nicht von selbst. Das ist eine Folge der Gottesferne des Menschen (Röm 7, 7ff). Wir wissen eben nicht, was wir tun sollen.
  15. Um die richtige Handlung zu erkennen, zu begründen und zu gestalten, hat Jesus mit den Menschen folgendes „moralisches Kalkül[3] gelehrt, ausgeübt und eingeübt: Grenzbeschreibung – Regel – Prinzip.
  16. Grundlage der Frage nach der richtigen Handlung ist der Katalog der 10 Gebote. Sie beschreiben die absoluten Grenzen menschlichen Handelns, deren Folgen zerstörerisch sind. Darum sind sie als Negativliste formuliert (mit zwei bedeutungsvollen Ausnahmen!). Die 10 Gebote beschreiben die absoluten „No-Gos“ menschlichen Handelns. Sie sind die Grenzbeschreibung.
  17. Sie können daher nicht direkt als Grundlage der Frage nach dem richtigen Handeln dienen. Sie müssen interpretiert werden. Die 10 Gebote allein können keine hinreichende Grundlage einer Ethik sein[4].
  18. Vielmehr muss aus ihnen eine Handlungsanweisung jeweils abgeleitet werden (das „Gute Werk“, das zu jedem Gebot gehört). Das „Gute Werk“ eines jeden Gebotes erhält man durch die Umkehrung des im Gebot Verbotenen. (Diebstahl – Freigiebigkeit, Sexuelle Freizügigkeit – Treue; Lüge - Aufrichtigkeit etc.). Aber auch diese Bestimmungen beschreiben noch nicht Handlungen, sondern Haltungen („Tugenden“), aus denen Handlungen hervorgehen.
  19. Die 10 Gebote müssen ergänzt werden durch eine Regel, mit deren Hilfe die richtige Handlung von Situation zu Situation aufgespürt werden kann und durch ein Prinzip, das die Anwendung dieser Regel steuert.
  20. Diese Regel und das Prinzip ihrer Anwendung führt Jesus in der Bergpredigt vor. Sie sind in allen seinen Taten und Reden wiederzufinden.
  21. Die Regel ist die sog. „goldene Regel“: „Alles nun, was ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, das tut ihnen auch!“(Mt 7,12)[5]
  22. Dabei muss aber vorausgesetzt werden, dass der eigene Wille auch sich selbst gegenüber von absolutem Wohlwollen geprägt ist (um das „Masochisten-Paradox“ zu verhindern: Wer sich selber hasst und bestraft werden möchte….usw.).
  23. Darum muss das Prinzip der Liebe (absolutes Wohlwollen) dazukommen, die Jesus dreistellig beschreibt:
  24. Mt 22, 37ff: »Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüt« (5. Mose 6,5). Dies ist das höchste und größte Gebot. Das andere aber ist dem gleich: »Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst« (3. Mose 19,18). Diese Liebe ist möglich, weil Gott uns zuerst liebt (1. Joh 4,10).
  25. Christliches Handeln folgt darum nicht dem „Gesetz“ als einem Katalog von konkreten Handlungsanweisungen. Diese sind immer kultur- und situationsabhängig und können nicht verallgemeinert werden. Das gilt auch für die Sammlung hebräischer Gesetze, die uns als „Altes Testament“ begegnen und für die Sammlungen christlicher Lebensregeln der Kirche des ersten Jahrhunderts, die im Neuen Testament erscheinen.
  26. Christliches Handeln steht solchen Gesetzeskatalogen eher kritisch gegenüber, weil sie dazu neigen, die Freiheit des Menschen so zu beschneiden, dass er nicht mehr aus Liebe dient, sondern aus Frucht gehorcht. Sie können falsch sein und selber üble Handlungen hervorbringen[6].
  27. Christliches Handeln aus freier Liebe orientiert sich am Bedürfnis des Nächsten.[7]
  28. Voraussetzung dafür ist die angstfreie Kommunikation über Bedürfnisse.
  29. Eine christliche Gesellschaft ist von der Hoffnung und der Vision getragen, dass es möglich sein muss, Räume und Zeiten angstfreier Kommunikation so zu schaffen, dass man den individuellen Menschen gerecht werden kann. Darum sind das Gebot der Feiertagsheiligung und des Generationenvertrages positiv formuliert[8].
  30. Eine recht verstandene Kirche, als die sichtbare Gestalt Jesu[9] und von seinem Geist erfüllt, hat die Aufgabe, am Aufbau, dem Erhalt und der permanenten Gestaltung der Gesellschaft aktiv, kritisch, solidarisch und begleitend teilzunehmen.
  31. Der politische Grundbegriff, der sich aus dem Gesagten ergibt, ist der der „Würde“.
  32. Die Würde des Individuums ergibt sich aus christlicher Sicht einzig daraus, dass jeder Mensch ein von Gott geliebtes Geschöpf ist: Er ist das von Gott gewürdigte Geschöpf.
  33. Die Würde des Menschen ergibt sich folglich nicht aus seinen Handlungen, seinen Leistungen, seiner äußeren Erscheinung, seiner Gruppenzugehörigkeit oder anderen „irdischen Qualitäten“. Jeder Versuch, Menschen und ihre Handlungen zu messen und nach ihrem Wert zu fragen, muss von einer christlichen Ethik zutiefst abgelehnt werden[10].
  34. Die Quelle des absoluten Wohlwollens ist Gott. Glaube ist Vertrauen genau darauf. Aus dem Glauben quillt die Hoffnung, dass Gott auch unser Misslingen und Scheitern, unsere Schwäche und unsere Gier nicht nur erträgt, sondern schöpferisch gestaltet. Das Symbol dafür, dass Gott selbst aus absolut Bösem und sinnlos vom Menschen angerichtetem Leiden noch Gutes schaffen kann, sind Kreuz und Auferstehung des Jesus von Nazareth. Indem Gott dieses absolute Böse (Sünde) mit Gutem (Gnade) überwindet, macht er uns kund, dass er das Böse nicht will und dass ein Mensch, der sich als Mensch recht versteht, dies auch nicht wollen kann, weil er sonst seine eigene Vernichtung wollen würde.
  35. Wer aus Angst vor Scheitern nicht handelt, ist schon gescheitert[11]. Wer aus Liebe handelt, kann nicht scheitern. Der Anfang der Liebe aber ist, dass Gott uns liebt.
  36. Wer das verstanden hat, weiß, was er zu tun hat.
  37. Wenn er es nicht weiß, weiß er, wen er zu fragen hat. Christliche Ethik ist immer die Ethik einer glaubenden, hoffenden und liebenden Gemeinschaft, die das Wort Gottes hört, oder sie ist keine christliche Ethik. Eine „christliche Individualethik“ („Das muss jeder für sich selbst entscheiden“) ist ein Selbstwiderspruch.
  38. Luther spitzt paradox zu: "Sei ein Sünder und sündige kräftig, aber vertraue noch stärker und freue dich in Christus, welcher der Sieger ist über die Sünde, den Tod und die Welt!“ Noch radikaler kann er sagen: „Wir Christen machen daher neue Dekaloge, wie es Paulus durch alle seine Briefe tut, und auch Petrus, am deutlichsten aber Christus im Evangelium“[12].
  39. Augustinus fasst diesen scheinbar komplizierten Zusammenhang in dem simplen Satz zusammen: „Liebe, und tue, was du willst“ (dilige, et fac, quod vis)[13].

 

 

 

 

 

Roland Kupski, Albungen, 19.11. 2008.




[1]  „Ethik“ meint: Die Lehre von den menschlichen Handlungen, insofern sie Ausdruck eines Willens sind (also kein Instinkt, Reflex oder fremdbestimmt). Speziell meint „Ethik“ die Lehre von den richtigen Handlungen und deren vernünftige Begründung. „Moral“ meint eine tradierte Sammlung von Bräuchen, Regeln und Meinungen über gute Handlungen, die in der Regel nicht begründet sind, sondern als fraglos gültig angesehen werden.
[2] Denn was sieht man? Ungnade in der Kultur, Gnadenlosigkeit in der Natur. Wie soll sich daraus eine Moral ableiten lassen? Das Argument von der Unsichtbarkeit des Hoffnungsgrundes ist so banal nicht, wie es aussieht.
[3] „Unter einem Kalkül (fr. calcul „Rechnung“; von lat. calculusRechenstein“, „Spielstein“) versteht man in den formalen Wissenschaften wie Logik und Mathematik ein System von Regeln, mit denen sich aus gegebenen Grundfiguren weitere Figuren herstellen und umformen lassen“. (http://de.wikipedia.org/wiki/Kalk%C3%BCl). Das zeigt noch einmal deutlich, dass eine christliche Ethik zwar auf dem Erbarmen beruht (sowohl das, das man erfährt als auch das, was  man empfindet), aber ihre Handlungen trotzdem vernünftig entwickelt und verantwortet. Sie handelt nicht „aus dem Bauch“ heraus, denn der „Bauch“ ist der Sitz des Begehrens. In der Bibel ist das Organ der vernünftigen Entscheidung das Herz. Das darf nicht im Sinne des romantischen Begriffes des Herzens als des Sitzes der Emotionen fehlverstanden werden. Hier liegt eine Quelle vieler fataler Missverständnisse. Ähnliches gilt für den Begriff des Gewissens, das bei Paulus nichts anderes ist als eine Art vorbewusste Instanz der Selbstwahrnehmung. Niemals aber, wie es in der Aufklärung missverstanden wurde, ist das Gewissen der Ort der Stimme Gottes oder gar der Sitz eines natürlichen Gesetzes. Die  Stimme Gottes hört das Gewissen ja gerade nicht, wenn es uns verklagt (1 Joh 19ff, hier Herz=Gewissen!), das natürliche Gesetz, wenn es denn überhaupt eines gibt, ist durch die Sünde unerkennbar geworden (Röm 1,18ff).
[4] Darum spitzt Jesus die 10 Gebote in den sog. „Antithesen der Bergpredigt“ (Mt 5,17.48), aber auch in Gleichnissen (Mt 19, 16 - 26) und Streitgesprächen (Mt 12, 1-14; 15,1-20; 19,1-12) bis an die Grenze der Unerträglichkeit zu. Sie taugen nicht zum Moralisieren. Sie taugen einzig dazu, Grenzen zu beschreiben. Je radikaler sie das tun, umso radikaler stellt sich die Frage nach dem Guten.
[5] Sie ist positiv formuliert, fordert also auf, nach Handlungsmöglichkeiten zu suchen. Das deutsche Sprichwort, das gerne als vermeintliches Äquivalent dazu angeführt wird, beschreibt hingegen eine reine Vermeidungsformel: „Was du nicht willst, was man dir tu, das füg auch keinem andren zu“. Das ist noch nichteinmal ein ethischer Minimalstandard. 
[6] So ist ja der Tod Jesu durch Anwendung des Gesetzes Gottes auf ihn begründet. Er ist nach geltendem Recht (der pharisäischen Interpretation der Thora) rechtmäßig hingerichtet worden. Das erklärt die Wut des rechtgläubigen Pharisäers Paulus auf die ersten Christen, die behaupten, dass in diesem rechtmäßig Getöteten die Liebe Gottes erscheint. Eine absurde Aussage für jemanden, der meint, Gott rede durch Gesetze.
[7] Paulus radikalisiert das „moralische Kalkül“ in dieser Hinsicht sogar noch: „Alles ist erlaubt, aber es nützt nicht alles. Alles ist erlaubt, aber nicht alles dient zum Guten. Alles ist erlaubt, aber nicht alles baut auf. Niemand suche das Seine, sondern was dem andern dient“ (1. Kor 6,12; 10,23). Das ist derselbe Dreischritt von Grenzbeschreibung – Regel – Prinzip, wobei die Grenzbeschreibung hier extrem ist - gegenüber ehemaligen Heiden kann sich Paulus auch gar nicht auf die jüdische Thora als möglicher Quelle der Grenzbeschreibung berufen! Er rekurriert vielmehr auf die Integrität und Würde des Leibes (sic!).
[8] Diese Vision nennt Jesus „Reich Gottes“. Das „Paradies“ als endgültiger Ort des Menschen ist ein Ort, an dem Ethik nicht mehr nötig ist, weil Böses nicht mehr möglich ist. Freilich fällt wegen der Liebe Gottes schon ein schein des Paradieses auch auf dieses Leben, sonst wäre ja die Hoffnung ohne Grund. Das erklärt die große Beliebtheit der Weihnachtsgeschichte.
[9] Paulus spricht von der Gemeine als dem Leib Christi, woraus er einige bemerkenswerte ethische Schlussfolgerungen ableitet, die man ohne zu zögern mit dem modernen Begriff der Ganzheitlichkeit beschreiben kann (1. Kor 6, 15ff; 12, 12ff.). Die so spirituell zu verstehende Kirche als durch die Taufe konstituierte Gemeinschaft der Heiligen darf natürlich nicht mit den real existierenden Kirchen ineins gesetzt werden. Das wäre das katholische Missverständnis, von dem sich abzugrenzen der Protestantismus gute Gründe hat.
[10] So versteht Paulus das unter die Sünde geratene „Gesetz“: Es bewertet den Menschen, anstatt ihm Würde zu verleihen. Der Glaube befreit das „Gesetz“ Gottes von dieser Wahrnehmung und kann es folglich wieder als gute Gabe Gottes zum Lebenkönnen erkennen (2. Kor 3,6).
[11] Sehr eindrücklich dazu das Gleichnis von den anvertrauten Zentnern (Lk 19.11f), aber auch Paulus´ Aufschrei: Weh mir, wenn ich das Evangelium nicht verkündige (1 Kor 9,16).
[12] „Esto peccator et pecca fortiter, sed fortius fide et gaude in Christo, qui victor est peccati, mortis et mundi!“, Brief an Melanchthon, 1521; Immo novos decalogos faciemus, sicut Paulus facit per omnes Epistolas, et Petrus, maxime Christus in Euangelio. (WA 39/I; 47.15ff, Disputatio de fide, 1535):
[13] In epistulam Ioannis ad Parthos, tractatus VII, 8.