Montag, 31. Oktober 2016

39 Thesen über die Grundlagen und Regeln einer christlichen Ethik

Das überraschende Ergebnis einer intensiven Diskussion mit meiner damaligen (2008) 10. Klasse (!) über einen Ausschnitt aus dem "Sermon von den guten Werken" zum siebten Gebot am 31. Oktober. Anlaß: die Bankenkrise! Eine Stunde des Verstehens für alle Beteiligten, wie wir sie selten hatten. Meine Hommage an den Reformationstag 2016. Ich bin gerade mal ein halber Luther....;).
 
 
39 Thesen über die Grundlagen und Regeln einer christlicher Ethik[1]

  1. Die Ethik des christlichen Glaubens fragt nach dem Willen Gottes als Grundlage menschlicher Handlungen. Darin ist sie eine religiöse Ethik (sola fide).
  2. Der Wille Gottes ist offenbart im „Worte Gottes“, gesprochen durch die Propheten („Altes Testament“) und die Apostel („Neues Testament“), also in der Heiligen Schrift und ausgelegt, tradiert und immer wieder neu interpretiert durch die Gemeinschaft der Heiligen, der recht verstandenen Kirche. Die Heilige Schrift ist also die Quelle der Ethik (sola scriptura).
  3. Eine christliche Ethik ist christlich dadurch, dass sie sich an Jesus Christus orientiert, in dem und durch den Gott zum Menschen in einer Haltung des absoluten Wohlwollens spricht. Auf ihn weisen die „Propheten“ hin, von ihm kommen die „Apostel“ her (solus christus).
  4. Grundlage aller christlicher Ethik ist also eine Kommunikation Gottes mit dem Menschen. Gott durchbricht von sich aus in einem Akt der freien Gnade das Schweigen, das durch die Sünde (die Gottesferne) des Menschen entstanden ist. Er beendet die Gottlosigkeit, in der sich jeder Mensch vorfindet und in der er sich wahrnimmt (sola gratia).
  5. Gott will, so schon die Propheten des Alten Testamentes, nicht den Tod des Sünders (des Gottlosen), sondern dass er lebt (Hes 18,23). Gott verachtet die Sünde, aber nicht den Sünder und die Sünderin. Und er will nicht nur, dass der Mensch lebt, sondern dass er gut lebt.
  6. Ein gutes Leben ist ein Leben in der Hoffnung, das bedeutet ein Leben ohne Angst (1. Joh 4,17).
  7. Ein Leben ohne Angst ist ein Leben in Freiheit (Gal 5,1).
  8. Die zentrale Tat Gottes ist daher die Befreiung des Menschen aus der Angst vor Strafe und vor den negativen Folgen seiner Handlungen (Rom 8,28).
  9. Glaube ist das feste Vertrauen darauf, dass genau das Gottes Willen ist
    (Heb 1,11).[2]
  10. Die höchste Form der Freiheit ist nach christlichem Verständnis die Liebe, die nichts anderes will, als ein gutes Leben des Anderen, dem wir durch unsere Zuwendung zum Nächsten werden (Lk 10,25ff).
  11. Christliche Liebe ist kein Gefühl, sondern eine Haltung gegenüber sich selber, gegenüber Gott und gegenüber dem Nächsten. Es ist die Haltung maximalen Wohlwollens.
  12. Die Form der von Gott gewollten christlichen Nächstenliebe ist folglich der Dienst. Die höchste Form des Dienstes ist die, die aus Einsicht und Selbstbestimmung, also aus Freiheit geschieht. Ein wahrer Diener ist kein Knecht, sondern ein Herr und Haushalter (1. Petr. 4,10).
  13. Diese Freiheit hat der glaubende Mensch, weil er sein Handeln nicht an der Frage nach Lohn und Straf bzw. Erfolg und Misserfolg ausrichten muss, sondern sich einzig an der Frage der Angemessenheit und der Richtigkeit der Entscheidung für den Nächsten orientieren darf. Das Gute wird gesucht und getan, weil es das Gute ist, das dem Nächsten zu Gute kommt.
  14. Das Gute aber ist strittig. Gute Handlungen verstehen sich nicht von selbst. Das ist eine Folge der Gottesferne des Menschen (Röm 7, 7ff). Wir wissen eben nicht, was wir tun sollen.
  15. Um die richtige Handlung zu erkennen, zu begründen und zu gestalten, hat Jesus mit den Menschen folgendes „moralisches Kalkül[3] gelehrt, ausgeübt und eingeübt: Grenzbeschreibung – Regel – Prinzip.
  16. Grundlage der Frage nach der richtigen Handlung ist der Katalog der 10 Gebote. Sie beschreiben die absoluten Grenzen menschlichen Handelns, deren Folgen zerstörerisch sind. Darum sind sie als Negativliste formuliert (mit zwei bedeutungsvollen Ausnahmen!). Die 10 Gebote beschreiben die absoluten „No-Gos“ menschlichen Handelns. Sie sind die Grenzbeschreibung.
  17. Sie können daher nicht direkt als Grundlage der Frage nach dem richtigen Handeln dienen. Sie müssen interpretiert werden. Die 10 Gebote allein können keine hinreichende Grundlage einer Ethik sein[4].
  18. Vielmehr muss aus ihnen eine Handlungsanweisung jeweils abgeleitet werden (das „Gute Werk“, das zu jedem Gebot gehört). Das „Gute Werk“ eines jeden Gebotes erhält man durch die Umkehrung des im Gebot Verbotenen. (Diebstahl – Freigiebigkeit, Sexuelle Freizügigkeit – Treue; Lüge - Aufrichtigkeit etc.). Aber auch diese Bestimmungen beschreiben noch nicht Handlungen, sondern Haltungen („Tugenden“), aus denen Handlungen hervorgehen.
  19. Die 10 Gebote müssen ergänzt werden durch eine Regel, mit deren Hilfe die richtige Handlung von Situation zu Situation aufgespürt werden kann und durch ein Prinzip, das die Anwendung dieser Regel steuert.
  20. Diese Regel und das Prinzip ihrer Anwendung führt Jesus in der Bergpredigt vor. Sie sind in allen seinen Taten und Reden wiederzufinden.
  21. Die Regel ist die sog. „goldene Regel“: „Alles nun, was ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, das tut ihnen auch!“(Mt 7,12)[5]
  22. Dabei muss aber vorausgesetzt werden, dass der eigene Wille auch sich selbst gegenüber von absolutem Wohlwollen geprägt ist (um das „Masochisten-Paradox“ zu verhindern: Wer sich selber hasst und bestraft werden möchte….usw.).
  23. Darum muss das Prinzip der Liebe (absolutes Wohlwollen) dazukommen, die Jesus dreistellig beschreibt:
  24. Mt 22, 37ff: »Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüt« (5. Mose 6,5). Dies ist das höchste und größte Gebot. Das andere aber ist dem gleich: »Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst« (3. Mose 19,18). Diese Liebe ist möglich, weil Gott uns zuerst liebt (1. Joh 4,10).
  25. Christliches Handeln folgt darum nicht dem „Gesetz“ als einem Katalog von konkreten Handlungsanweisungen. Diese sind immer kultur- und situationsabhängig und können nicht verallgemeinert werden. Das gilt auch für die Sammlung hebräischer Gesetze, die uns als „Altes Testament“ begegnen und für die Sammlungen christlicher Lebensregeln der Kirche des ersten Jahrhunderts, die im Neuen Testament erscheinen.
  26. Christliches Handeln steht solchen Gesetzeskatalogen eher kritisch gegenüber, weil sie dazu neigen, die Freiheit des Menschen so zu beschneiden, dass er nicht mehr aus Liebe dient, sondern aus Frucht gehorcht. Sie können falsch sein und selber üble Handlungen hervorbringen[6].
  27. Christliches Handeln aus freier Liebe orientiert sich am Bedürfnis des Nächsten.[7]
  28. Voraussetzung dafür ist die angstfreie Kommunikation über Bedürfnisse.
  29. Eine christliche Gesellschaft ist von der Hoffnung und der Vision getragen, dass es möglich sein muss, Räume und Zeiten angstfreier Kommunikation so zu schaffen, dass man den individuellen Menschen gerecht werden kann. Darum sind das Gebot der Feiertagsheiligung und des Generationenvertrages positiv formuliert[8].
  30. Eine recht verstandene Kirche, als die sichtbare Gestalt Jesu[9] und von seinem Geist erfüllt, hat die Aufgabe, am Aufbau, dem Erhalt und der permanenten Gestaltung der Gesellschaft aktiv, kritisch, solidarisch und begleitend teilzunehmen.
  31. Der politische Grundbegriff, der sich aus dem Gesagten ergibt, ist der der „Würde“.
  32. Die Würde des Individuums ergibt sich aus christlicher Sicht einzig daraus, dass jeder Mensch ein von Gott geliebtes Geschöpf ist: Er ist das von Gott gewürdigte Geschöpf.
  33. Die Würde des Menschen ergibt sich folglich nicht aus seinen Handlungen, seinen Leistungen, seiner äußeren Erscheinung, seiner Gruppenzugehörigkeit oder anderen „irdischen Qualitäten“. Jeder Versuch, Menschen und ihre Handlungen zu messen und nach ihrem Wert zu fragen, muss von einer christlichen Ethik zutiefst abgelehnt werden[10].
  34. Die Quelle des absoluten Wohlwollens ist Gott. Glaube ist Vertrauen genau darauf. Aus dem Glauben quillt die Hoffnung, dass Gott auch unser Misslingen und Scheitern, unsere Schwäche und unsere Gier nicht nur erträgt, sondern schöpferisch gestaltet. Das Symbol dafür, dass Gott selbst aus absolut Bösem und sinnlos vom Menschen angerichtetem Leiden noch Gutes schaffen kann, sind Kreuz und Auferstehung des Jesus von Nazareth. Indem Gott dieses absolute Böse (Sünde) mit Gutem (Gnade) überwindet, macht er uns kund, dass er das Böse nicht will und dass ein Mensch, der sich als Mensch recht versteht, dies auch nicht wollen kann, weil er sonst seine eigene Vernichtung wollen würde.
  35. Wer aus Angst vor Scheitern nicht handelt, ist schon gescheitert[11]. Wer aus Liebe handelt, kann nicht scheitern. Der Anfang der Liebe aber ist, dass Gott uns liebt.
  36. Wer das verstanden hat, weiß, was er zu tun hat.
  37. Wenn er es nicht weiß, weiß er, wen er zu fragen hat. Christliche Ethik ist immer die Ethik einer glaubenden, hoffenden und liebenden Gemeinschaft, die das Wort Gottes hört, oder sie ist keine christliche Ethik. Eine „christliche Individualethik“ („Das muss jeder für sich selbst entscheiden“) ist ein Selbstwiderspruch.
  38. Luther spitzt paradox zu: "Sei ein Sünder und sündige kräftig, aber vertraue noch stärker und freue dich in Christus, welcher der Sieger ist über die Sünde, den Tod und die Welt!“ Noch radikaler kann er sagen: „Wir Christen machen daher neue Dekaloge, wie es Paulus durch alle seine Briefe tut, und auch Petrus, am deutlichsten aber Christus im Evangelium“[12].
  39. Augustinus fasst diesen scheinbar komplizierten Zusammenhang in dem simplen Satz zusammen: „Liebe, und tue, was du willst“ (dilige, et fac, quod vis)[13].

 

 

 

 

 

Roland Kupski, Albungen, 19.11. 2008.




[1]  „Ethik“ meint: Die Lehre von den menschlichen Handlungen, insofern sie Ausdruck eines Willens sind (also kein Instinkt, Reflex oder fremdbestimmt). Speziell meint „Ethik“ die Lehre von den richtigen Handlungen und deren vernünftige Begründung. „Moral“ meint eine tradierte Sammlung von Bräuchen, Regeln und Meinungen über gute Handlungen, die in der Regel nicht begründet sind, sondern als fraglos gültig angesehen werden.
[2] Denn was sieht man? Ungnade in der Kultur, Gnadenlosigkeit in der Natur. Wie soll sich daraus eine Moral ableiten lassen? Das Argument von der Unsichtbarkeit des Hoffnungsgrundes ist so banal nicht, wie es aussieht.
[3] „Unter einem Kalkül (fr. calcul „Rechnung“; von lat. calculusRechenstein“, „Spielstein“) versteht man in den formalen Wissenschaften wie Logik und Mathematik ein System von Regeln, mit denen sich aus gegebenen Grundfiguren weitere Figuren herstellen und umformen lassen“. (http://de.wikipedia.org/wiki/Kalk%C3%BCl). Das zeigt noch einmal deutlich, dass eine christliche Ethik zwar auf dem Erbarmen beruht (sowohl das, das man erfährt als auch das, was  man empfindet), aber ihre Handlungen trotzdem vernünftig entwickelt und verantwortet. Sie handelt nicht „aus dem Bauch“ heraus, denn der „Bauch“ ist der Sitz des Begehrens. In der Bibel ist das Organ der vernünftigen Entscheidung das Herz. Das darf nicht im Sinne des romantischen Begriffes des Herzens als des Sitzes der Emotionen fehlverstanden werden. Hier liegt eine Quelle vieler fataler Missverständnisse. Ähnliches gilt für den Begriff des Gewissens, das bei Paulus nichts anderes ist als eine Art vorbewusste Instanz der Selbstwahrnehmung. Niemals aber, wie es in der Aufklärung missverstanden wurde, ist das Gewissen der Ort der Stimme Gottes oder gar der Sitz eines natürlichen Gesetzes. Die  Stimme Gottes hört das Gewissen ja gerade nicht, wenn es uns verklagt (1 Joh 19ff, hier Herz=Gewissen!), das natürliche Gesetz, wenn es denn überhaupt eines gibt, ist durch die Sünde unerkennbar geworden (Röm 1,18ff).
[4] Darum spitzt Jesus die 10 Gebote in den sog. „Antithesen der Bergpredigt“ (Mt 5,17.48), aber auch in Gleichnissen (Mt 19, 16 - 26) und Streitgesprächen (Mt 12, 1-14; 15,1-20; 19,1-12) bis an die Grenze der Unerträglichkeit zu. Sie taugen nicht zum Moralisieren. Sie taugen einzig dazu, Grenzen zu beschreiben. Je radikaler sie das tun, umso radikaler stellt sich die Frage nach dem Guten.
[5] Sie ist positiv formuliert, fordert also auf, nach Handlungsmöglichkeiten zu suchen. Das deutsche Sprichwort, das gerne als vermeintliches Äquivalent dazu angeführt wird, beschreibt hingegen eine reine Vermeidungsformel: „Was du nicht willst, was man dir tu, das füg auch keinem andren zu“. Das ist noch nichteinmal ein ethischer Minimalstandard. 
[6] So ist ja der Tod Jesu durch Anwendung des Gesetzes Gottes auf ihn begründet. Er ist nach geltendem Recht (der pharisäischen Interpretation der Thora) rechtmäßig hingerichtet worden. Das erklärt die Wut des rechtgläubigen Pharisäers Paulus auf die ersten Christen, die behaupten, dass in diesem rechtmäßig Getöteten die Liebe Gottes erscheint. Eine absurde Aussage für jemanden, der meint, Gott rede durch Gesetze.
[7] Paulus radikalisiert das „moralische Kalkül“ in dieser Hinsicht sogar noch: „Alles ist erlaubt, aber es nützt nicht alles. Alles ist erlaubt, aber nicht alles dient zum Guten. Alles ist erlaubt, aber nicht alles baut auf. Niemand suche das Seine, sondern was dem andern dient“ (1. Kor 6,12; 10,23). Das ist derselbe Dreischritt von Grenzbeschreibung – Regel – Prinzip, wobei die Grenzbeschreibung hier extrem ist - gegenüber ehemaligen Heiden kann sich Paulus auch gar nicht auf die jüdische Thora als möglicher Quelle der Grenzbeschreibung berufen! Er rekurriert vielmehr auf die Integrität und Würde des Leibes (sic!).
[8] Diese Vision nennt Jesus „Reich Gottes“. Das „Paradies“ als endgültiger Ort des Menschen ist ein Ort, an dem Ethik nicht mehr nötig ist, weil Böses nicht mehr möglich ist. Freilich fällt wegen der Liebe Gottes schon ein schein des Paradieses auch auf dieses Leben, sonst wäre ja die Hoffnung ohne Grund. Das erklärt die große Beliebtheit der Weihnachtsgeschichte.
[9] Paulus spricht von der Gemeine als dem Leib Christi, woraus er einige bemerkenswerte ethische Schlussfolgerungen ableitet, die man ohne zu zögern mit dem modernen Begriff der Ganzheitlichkeit beschreiben kann (1. Kor 6, 15ff; 12, 12ff.). Die so spirituell zu verstehende Kirche als durch die Taufe konstituierte Gemeinschaft der Heiligen darf natürlich nicht mit den real existierenden Kirchen ineins gesetzt werden. Das wäre das katholische Missverständnis, von dem sich abzugrenzen der Protestantismus gute Gründe hat.
[10] So versteht Paulus das unter die Sünde geratene „Gesetz“: Es bewertet den Menschen, anstatt ihm Würde zu verleihen. Der Glaube befreit das „Gesetz“ Gottes von dieser Wahrnehmung und kann es folglich wieder als gute Gabe Gottes zum Lebenkönnen erkennen (2. Kor 3,6).
[11] Sehr eindrücklich dazu das Gleichnis von den anvertrauten Zentnern (Lk 19.11f), aber auch Paulus´ Aufschrei: Weh mir, wenn ich das Evangelium nicht verkündige (1 Kor 9,16).
[12] „Esto peccator et pecca fortiter, sed fortius fide et gaude in Christo, qui victor est peccati, mortis et mundi!“, Brief an Melanchthon, 1521; Immo novos decalogos faciemus, sicut Paulus facit per omnes Epistolas, et Petrus, maxime Christus in Euangelio. (WA 39/I; 47.15ff, Disputatio de fide, 1535):
[13] In epistulam Ioannis ad Parthos, tractatus VII, 8.

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