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Thesen über die Grundlagen und Regeln einer christlicher Ethik[1]
- Die Ethik des christlichen Glaubens fragt nach dem
Willen Gottes als Grundlage menschlicher Handlungen. Darin ist sie eine
religiöse Ethik (sola fide).
- Der Wille Gottes ist offenbart im „Worte Gottes“,
gesprochen durch die Propheten („Altes Testament“) und die Apostel („Neues
Testament“), also in der Heiligen Schrift und ausgelegt, tradiert und
immer wieder neu interpretiert durch die Gemeinschaft der Heiligen, der
recht verstandenen Kirche. Die Heilige Schrift ist also die Quelle der
Ethik (sola scriptura).
- Eine christliche Ethik ist christlich dadurch, dass
sie sich an Jesus Christus orientiert, in dem und durch den Gott zum
Menschen in einer Haltung des absoluten Wohlwollens spricht. Auf ihn
weisen die „Propheten“ hin, von ihm kommen die „Apostel“ her (solus
christus).
- Grundlage aller christlicher Ethik ist also eine
Kommunikation Gottes mit dem Menschen. Gott durchbricht von sich aus in
einem Akt der freien Gnade das Schweigen, das durch die Sünde (die
Gottesferne) des Menschen entstanden ist. Er beendet die Gottlosigkeit, in
der sich jeder Mensch vorfindet und in der er sich wahrnimmt (sola
gratia).
- Gott will, so schon die Propheten des Alten
Testamentes, nicht den Tod des Sünders (des Gottlosen), sondern dass er
lebt (Hes 18,23). Gott verachtet die Sünde, aber nicht den Sünder und die
Sünderin. Und er will nicht nur, dass der Mensch lebt, sondern dass er gut lebt.
- Ein gutes
Leben ist ein Leben in der Hoffnung, das bedeutet ein Leben ohne Angst
(1. Joh 4,17).
- Ein Leben ohne Angst ist ein Leben in Freiheit (Gal
5,1).
- Die zentrale Tat Gottes ist daher die Befreiung des
Menschen aus der Angst vor Strafe und vor den negativen Folgen seiner
Handlungen (Rom 8,28).
- Glaube ist das feste Vertrauen darauf, dass genau
das Gottes Willen ist
(Heb 1,11).[2] - Die höchste Form der Freiheit ist nach christlichem
Verständnis die Liebe, die nichts anderes will, als ein gutes Leben des Anderen, dem wir durch unsere
Zuwendung zum Nächsten werden (Lk 10,25ff).
- Christliche Liebe ist kein Gefühl, sondern eine
Haltung gegenüber sich selber, gegenüber Gott und gegenüber dem Nächsten.
Es ist die Haltung maximalen Wohlwollens.
- Die Form der von Gott gewollten christlichen
Nächstenliebe ist folglich der Dienst.
Die höchste Form des Dienstes ist die, die aus Einsicht und
Selbstbestimmung, also aus Freiheit geschieht. Ein wahrer Diener ist kein
Knecht, sondern ein Herr und Haushalter (1. Petr. 4,10).
- Diese Freiheit hat der glaubende Mensch, weil er
sein Handeln nicht an der Frage nach Lohn
und Straf bzw. Erfolg und Misserfolg ausrichten muss, sondern sich
einzig an der Frage der Angemessenheit und der Richtigkeit der
Entscheidung für den Nächsten orientieren darf. Das Gute wird gesucht und
getan, weil es das Gute ist, das dem Nächsten zu Gute kommt.
- Das Gute aber ist strittig. Gute Handlungen
verstehen sich nicht von selbst. Das ist eine Folge der Gottesferne des
Menschen (Röm 7, 7ff). Wir wissen eben nicht, was wir tun sollen.
- Um die richtige Handlung zu erkennen, zu begründen
und zu gestalten, hat Jesus mit den Menschen folgendes „moralisches Kalkül“[3]
gelehrt, ausgeübt und eingeübt: Grenzbeschreibung
– Regel – Prinzip.
- Grundlage der Frage nach der richtigen Handlung ist
der Katalog der 10 Gebote. Sie
beschreiben die absoluten Grenzen menschlichen Handelns, deren Folgen
zerstörerisch sind. Darum sind sie als Negativliste formuliert (mit zwei
bedeutungsvollen Ausnahmen!). Die 10 Gebote beschreiben die absoluten „No-Gos“
menschlichen Handelns. Sie sind die Grenzbeschreibung.
- Sie können daher nicht direkt als Grundlage der
Frage nach dem richtigen Handeln dienen. Sie müssen interpretiert werden. Die
10 Gebote allein können keine hinreichende Grundlage einer Ethik sein[4].
- Vielmehr muss aus ihnen eine Handlungsanweisung jeweils abgeleitet werden (das „Gute Werk“,
das zu jedem Gebot gehört). Das „Gute Werk“ eines jeden Gebotes erhält man
durch die Umkehrung des im Gebot Verbotenen. (Diebstahl – Freigiebigkeit,
Sexuelle Freizügigkeit – Treue; Lüge - Aufrichtigkeit etc.). Aber auch diese
Bestimmungen beschreiben noch nicht Handlungen, sondern Haltungen („Tugenden“), aus denen Handlungen hervorgehen.
- Die 10 Gebote müssen ergänzt werden durch eine Regel, mit deren Hilfe die
richtige Handlung von Situation zu Situation aufgespürt werden kann und
durch ein Prinzip, das die
Anwendung dieser Regel steuert.
- Diese Regel und das Prinzip ihrer Anwendung führt
Jesus in der Bergpredigt vor. Sie sind in allen seinen Taten und Reden
wiederzufinden.
- Die Regel ist die sog. „goldene Regel“: „Alles nun, was ihr wollt, dass euch die Leute
tun sollen, das tut ihnen auch!“(Mt 7,12)[5]
- Dabei muss aber vorausgesetzt werden, dass der
eigene Wille auch sich selbst gegenüber von absolutem Wohlwollen geprägt
ist (um das „Masochisten-Paradox“ zu verhindern: Wer sich selber hasst und
bestraft werden möchte….usw.).
- Darum muss das Prinzip
der Liebe (absolutes Wohlwollen) dazukommen, die Jesus dreistellig
beschreibt:
- Mt 22, 37ff: »Du sollst den Herrn, deinen Gott,
lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüt« (5. Mose
6,5). Dies ist das höchste und größte Gebot. Das andere aber ist dem
gleich: »Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst« (3. Mose
19,18). Diese Liebe ist möglich, weil Gott uns zuerst liebt (1. Joh 4,10).
- Christliches Handeln folgt darum nicht dem „Gesetz“
als einem Katalog von konkreten Handlungsanweisungen. Diese sind immer
kultur- und situationsabhängig und können nicht verallgemeinert werden. Das
gilt auch für die Sammlung hebräischer Gesetze, die uns als „Altes
Testament“ begegnen und für die Sammlungen christlicher Lebensregeln der
Kirche des ersten Jahrhunderts, die im Neuen Testament erscheinen.
- Christliches Handeln steht solchen
Gesetzeskatalogen eher kritisch gegenüber, weil sie dazu neigen, die
Freiheit des Menschen so zu beschneiden, dass er nicht mehr aus Liebe
dient, sondern aus Frucht gehorcht. Sie können falsch sein und selber üble
Handlungen hervorbringen[6].
- Christliches Handeln aus freier Liebe orientiert
sich am Bedürfnis des Nächsten.[7]
- Voraussetzung dafür ist die angstfreie
Kommunikation über Bedürfnisse.
- Eine christliche
Gesellschaft ist von der Hoffnung und der Vision getragen, dass es
möglich sein muss, Räume und Zeiten angstfreier Kommunikation so zu
schaffen, dass man den individuellen Menschen gerecht werden kann. Darum
sind das Gebot der Feiertagsheiligung und des Generationenvertrages
positiv formuliert[8].
- Eine recht verstandene Kirche, als die sichtbare
Gestalt Jesu[9] und von seinem Geist
erfüllt, hat die Aufgabe, am Aufbau, dem Erhalt und der permanenten Gestaltung
der Gesellschaft aktiv, kritisch, solidarisch und begleitend teilzunehmen.
- Der politische Grundbegriff, der sich aus dem
Gesagten ergibt, ist der der „Würde“.
- Die Würde
des Individuums ergibt sich aus christlicher Sicht einzig daraus, dass
jeder Mensch ein von Gott geliebtes Geschöpf ist: Er ist das von Gott
gewürdigte Geschöpf.
- Die Würde des Menschen ergibt sich folglich nicht aus seinen Handlungen, seinen
Leistungen, seiner äußeren Erscheinung, seiner Gruppenzugehörigkeit oder
anderen „irdischen Qualitäten“. Jeder Versuch, Menschen und ihre
Handlungen zu messen und nach ihrem Wert zu fragen, muss von einer
christlichen Ethik zutiefst abgelehnt werden[10].
- Die Quelle des absoluten Wohlwollens ist Gott.
Glaube ist Vertrauen genau darauf. Aus dem Glauben quillt die Hoffnung,
dass Gott auch unser Misslingen und Scheitern, unsere Schwäche und unsere
Gier nicht nur erträgt, sondern schöpferisch gestaltet. Das Symbol dafür,
dass Gott selbst aus absolut Bösem und sinnlos vom Menschen angerichtetem
Leiden noch Gutes schaffen kann, sind Kreuz und Auferstehung des Jesus von
Nazareth. Indem Gott dieses absolute Böse (Sünde) mit Gutem (Gnade)
überwindet, macht er uns kund, dass er das Böse nicht will und dass ein
Mensch, der sich als Mensch recht versteht, dies auch nicht wollen kann,
weil er sonst seine eigene Vernichtung wollen würde.
- Wer aus Angst vor Scheitern nicht handelt, ist
schon gescheitert[11].
Wer aus Liebe handelt, kann nicht scheitern. Der Anfang der Liebe aber
ist, dass Gott uns liebt.
- Wer das verstanden hat, weiß, was er zu tun hat.
- Wenn er es nicht weiß, weiß er, wen er zu fragen
hat. Christliche Ethik ist immer die Ethik einer glaubenden, hoffenden und
liebenden Gemeinschaft, die das Wort Gottes hört, oder sie ist keine
christliche Ethik. Eine „christliche Individualethik“ („Das muss jeder für
sich selbst entscheiden“) ist ein Selbstwiderspruch.
- Luther spitzt paradox zu: "Sei ein Sünder und
sündige kräftig, aber vertraue noch stärker und freue dich in Christus,
welcher der Sieger ist über die Sünde, den Tod und die Welt!“ Noch
radikaler kann er sagen: „Wir Christen machen daher neue Dekaloge, wie es
Paulus durch alle seine Briefe tut, und auch Petrus, am deutlichsten aber
Christus im Evangelium“[12].
- Augustinus fasst diesen scheinbar komplizierten Zusammenhang
in dem simplen Satz zusammen: „Liebe, und tue, was du willst“ (dilige, et
fac, quod vis)[13].
Roland Kupski, Albungen, 19.11. 2008.
[1] „Ethik“ meint: Die Lehre von den menschlichen
Handlungen, insofern sie Ausdruck eines Willens sind (also kein Instinkt,
Reflex oder fremdbestimmt). Speziell meint „Ethik“ die Lehre von den richtigen
Handlungen und deren vernünftige Begründung. „Moral“ meint eine tradierte
Sammlung von Bräuchen, Regeln und Meinungen über gute Handlungen, die in der
Regel nicht begründet sind, sondern als fraglos gültig angesehen werden.
[2] Denn was sieht man?
Ungnade in der Kultur, Gnadenlosigkeit in der Natur. Wie soll sich daraus eine
Moral ableiten lassen? Das Argument von der Unsichtbarkeit des Hoffnungsgrundes
ist so banal nicht, wie es aussieht.
[3] „Unter einem Kalkül (fr. calcul „Rechnung“; von lat. calculus „Rechenstein“, „Spielstein“) versteht man in den formalen
Wissenschaften wie Logik und Mathematik ein System von Regeln, mit denen sich
aus gegebenen Grundfiguren weitere Figuren herstellen und umformen lassen“. (http://de.wikipedia.org/wiki/Kalk%C3%BCl).
Das zeigt noch einmal deutlich, dass eine christliche Ethik zwar auf dem
Erbarmen beruht (sowohl das, das man erfährt als auch das, was man empfindet), aber ihre Handlungen trotzdem
vernünftig entwickelt und verantwortet. Sie handelt nicht „aus dem Bauch“
heraus, denn der „Bauch“ ist der Sitz des Begehrens. In der Bibel ist das Organ
der vernünftigen Entscheidung das Herz. Das darf nicht im Sinne des
romantischen Begriffes des Herzens als des Sitzes der Emotionen fehlverstanden
werden. Hier liegt eine Quelle vieler fataler Missverständnisse. Ähnliches gilt
für den Begriff des Gewissens, das bei Paulus nichts anderes ist als eine Art
vorbewusste Instanz der Selbstwahrnehmung. Niemals aber, wie es in der
Aufklärung missverstanden wurde, ist das Gewissen der Ort der Stimme Gottes
oder gar der Sitz eines natürlichen Gesetzes. Die Stimme Gottes hört das Gewissen ja gerade
nicht, wenn es uns verklagt (1 Joh 19ff, hier Herz=Gewissen!), das natürliche Gesetz, wenn es
denn überhaupt eines gibt, ist durch die Sünde unerkennbar geworden (Röm
1,18ff).
[4] Darum spitzt Jesus die 10
Gebote in den sog. „Antithesen der Bergpredigt“ (Mt 5,17.48), aber auch in
Gleichnissen (Mt 19, 16 - 26) und Streitgesprächen (Mt 12, 1-14; 15,1-20;
19,1-12) bis an die Grenze der Unerträglichkeit zu. Sie taugen nicht zum
Moralisieren. Sie taugen einzig dazu, Grenzen zu beschreiben. Je radikaler sie
das tun, umso radikaler stellt sich die Frage nach dem Guten.
[5] Sie ist positiv formuliert,
fordert also auf, nach Handlungsmöglichkeiten zu suchen. Das deutsche
Sprichwort, das gerne als vermeintliches Äquivalent dazu angeführt wird,
beschreibt hingegen eine reine Vermeidungsformel: „Was du nicht willst, was man
dir tu, das füg auch keinem andren zu“. Das ist noch nichteinmal ein ethischer
Minimalstandard.
[6] So ist ja der Tod Jesu
durch Anwendung des Gesetzes Gottes auf ihn begründet. Er ist nach geltendem
Recht (der pharisäischen Interpretation der Thora) rechtmäßig hingerichtet worden.
Das erklärt die Wut des rechtgläubigen Pharisäers Paulus auf die ersten
Christen, die behaupten, dass in diesem rechtmäßig Getöteten die Liebe Gottes
erscheint. Eine absurde Aussage für jemanden, der meint, Gott rede durch
Gesetze.
[7] Paulus radikalisiert das
„moralische Kalkül“ in dieser Hinsicht sogar noch: „Alles ist erlaubt, aber es
nützt nicht alles. Alles ist erlaubt, aber nicht alles dient zum Guten. Alles
ist erlaubt, aber nicht alles baut auf. Niemand suche das Seine, sondern was
dem andern dient“ (1. Kor 6,12; 10,23). Das ist derselbe Dreischritt von
Grenzbeschreibung – Regel – Prinzip, wobei die Grenzbeschreibung hier extrem
ist - gegenüber ehemaligen Heiden kann sich Paulus auch gar nicht auf die
jüdische Thora als möglicher Quelle der Grenzbeschreibung berufen! Er
rekurriert vielmehr auf die Integrität und Würde des Leibes (sic!).
[8] Diese Vision nennt Jesus
„Reich Gottes“. Das „Paradies“ als endgültiger Ort des Menschen ist ein Ort, an
dem Ethik nicht mehr nötig ist, weil Böses nicht mehr möglich ist. Freilich
fällt wegen der Liebe Gottes schon ein schein des Paradieses auch auf dieses
Leben, sonst wäre ja die Hoffnung ohne Grund. Das erklärt die große Beliebtheit
der Weihnachtsgeschichte.
[9] Paulus spricht von der
Gemeine als dem Leib Christi, woraus er einige bemerkenswerte ethische
Schlussfolgerungen ableitet, die man ohne zu zögern mit dem modernen Begriff
der Ganzheitlichkeit beschreiben kann (1. Kor 6, 15ff; 12, 12ff.). Die so
spirituell zu verstehende Kirche als durch die Taufe konstituierte Gemeinschaft
der Heiligen darf natürlich nicht mit den real existierenden Kirchen ineins
gesetzt werden. Das wäre das katholische Missverständnis, von dem sich
abzugrenzen der Protestantismus gute Gründe hat.
[10] So versteht Paulus das
unter die Sünde geratene „Gesetz“: Es bewertet
den Menschen, anstatt ihm Würde zu
verleihen. Der Glaube befreit das „Gesetz“ Gottes von dieser Wahrnehmung und
kann es folglich wieder als gute Gabe Gottes zum Lebenkönnen erkennen (2. Kor
3,6).
[11] Sehr eindrücklich dazu das
Gleichnis von den anvertrauten Zentnern (Lk 19.11f), aber auch Paulus´
Aufschrei: Weh mir, wenn ich das Evangelium nicht verkündige (1 Kor 9,16).
[12] „Esto peccator et pecca fortiter, sed
fortius fide et gaude in Christo, qui victor est peccati, mortis et mundi!“,
Brief an Melanchthon, 1521; Immo novos decalogos faciemus, sicut Paulus facit
per omnes Epistolas, et Petrus, maxime Christus in Euangelio. (WA 39/I;
47.15ff, Disputatio de fide, 1535):
[13] In epistulam Ioannis ad Parthos, tractatus
VII, 8.
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