Samstag, 31. Oktober 2020

Pest, Angst und Freiheit. Predigt zum Reformationsfest 2020, Großenritte

 

Zu Beginn des Gottesdienstes:

 

Memorandum der medizinischen Fakultät der Universität Paris, Oktober 1348, zur um sich greifenden Pestepidemie, die als der schwarze Tod über 3 Jahrhunderte hinweg Millionen Todesopfer fordern wird.

 

„Wir, die Mitglieder des Medizinalkollegiums zu Paris, geben hier nach reiflicher Überlegung und gründlicher Durchsprechung des herrschenden Sterbens und Ablebens und nach Erforschung der Meinung unserer alten Meister eine klare Darstellung der Ursachen dieser Pest gemäß den Regeln und Schlüssen der Astrologie und Naturwissenschaft.

Wir erklären somit folgendes: Man weiß, daß in Indien und in den Gegenden des großen Meeres die Gestirne, welche mit den Sonnenstrahlen und der Hitze der Himmelsfeuer kämpfen, ihren Einfluß besonders auf jenes Meer ausüben und heftig gegen seine Gewässer ankämpfen. Daraus entstehen Dämpfe, welche die Sonne verdunkeln und ihr Licht in Finsternis verwandeln. Diese Dämpfe erneuern alle achtundzwanzig Tage den Kreislauf des Steigens und Fallens ohne Unterlaß [...]. 

Falls die Einwohner folgende Vorschriften oder ähnliche nicht beachten wollen, kündigen wir ihnen unausweichlichen Tod an. [...]

Sobald Donner und Hagel es ankündigt, muß jeder auf den Regen gefaßt sein und sich vor der äußeren Luft während des Unwetters und nachher hüten. Man soll dann große Feuer aus Weinreben, aus Lorbeerzweigen oder anderem grünen Holz anzünden, ferner soll man große Massen Weihrauch und Kamillen auf den öffentlichen Plätzen und an stark bevölkerten Orten und im Innern der Häuser verbrennen. [...]

Kalte, feuchte und wässrige Speisen sind größtenteils schädlich. Gefährlich ist das Ausgehen zur Nachtzeit bis um drei Uhr morgens wegen des Taues. Fisch soll man nicht essen; zuviel Bewegung kann schaden; man kleide sich warm und schütze sich vor Kälte, Feuchtigkeit und Regen, man koche nichts mit Regenwasser. Zu den Mahlzeiten nehme man etwa Theriak; Olivenöl zur Speise ist tödlich. Fette Leute sollen sich der Sonne aussetzen. Eine große Enthaltsamkeit, Gemütserregungen, Zorn und Trunkenheit sind gefährlich. Durchfälle sind bedenklich, Bäder gefährlich. Man halte den Leib mit Klistieren offen – Umgang mit Weibern ist tödlich; man soll sie weder begatten, noch in einem Bett mit ihnen schlafen.

Diese Vorschriften gelten besonders für Alle, die an den Gestaden des Meeres oder auf Inseln wohnen, wohin der verderbliche Wind gedrungen ist.“

 

Lesung:

Römer 3, 28-31 

28 So halten wir nun dafür, dass der Mensch gerecht wird ohne des Gesetzes Werke, allein durch den Glauben. 29 Oder ist Gott allein der Gott der Juden? Ist er nicht auch der Gott der Heiden? Ja gewiss, auch der Heiden. 30 Denn es ist der eine Gott, der gerecht macht die Juden aus dem Glauben und die Heiden durch den Glauben. 31 Wie? Heben wir das Gesetz auf durch den Glauben? Das sei ferne! Sondern wir richten das Gesetz auf. 

 


 

Predigt:

Liebe Gemeinde, Schwestern und Brüder im Herrn, liebe Zuschauende und Zuhörende im Live Stream,

Gnade sei mit Euch und Friede von Gott unserem Vater und dem Herrn Jesus Christus!

 

 

Die Reformation war eine Befreiung. Das ist es, was wir feiern und woran wir heute erinnern. Eine Befreiung wovon? In der Lesung haben wir es gehört, in schwerwiegenden Gedanken des Apostels Paulus über Gesetz und Glauben. Was er dort in seiner schwierigen theologischen Sprache sagt, ist aber ein einfacher Gedanke: Das Gesetz, die Regeln, sind für den Menschen da, nicht der Mensch für die Regeln. Dass Gott uns liebt, uns annimmt und uns für immer treu bleibt, hängt nicht davon ab, ob wir die Regeln und Gesetze halten. Er liebt uns bedingungslos, es ist an uns, ihm zum vertrauen. Zwischen Gott und Mensch herrschen Regeln und Gesetze, sondern die Liebe. Und für die steht Jesus Christus, dessen Weg durch Tod und Angst in die Auferstehung ein Weg gegen die Angst und die Verweiflung ist. So hat es Luther erfahren und erlebt, und dieser Impuls ist der Impuls der Reformation: Befreiung von der Angst und die Befreiung der Vernunft von religiösen Voruteilen, Aberglauben und falschem Autoritätsglauben.

Die Vernunft ist nicht mehr die Sklavin des Glaubens, sondern seine Partnerin. Vernunft und Glauben gehen nun Hand in Hand, Glauben und Wissen sind Geschwister, die einander kritisch begleiten und um die Wahrheit streiten. Die aber steht nicht in Büchern, sondern wird durch methodische Erfahrung, Auseinandersetzung und ständige Überprüfung freigelegt. Das ist der Geist der Moderne, die in der Reformation eine ihrer Wurzeln hat. Dem gehe ich in der Predigt nach.

 

Wir haben zu Beginn das Gutachten der Pariser theologischen Fakultät zu der großen Pestepidemie, dem Schwarzen Tod, gehört. Sie brach im Jahr 1347 aus und raffte innerhalb kürzester Zeit Hundertausende, am Ende über fast drei Jahrhunderte gar Millionen Menschen dahin.

 

Und wir haben gehört, wie hilflos die Menschen dem damals ausgeliefert waren, weil die Medizin der damaligen Zeit ein wüster Mix aus Religion. Aberglauben, Autoritätsglauben und wirren Theorien war, die dann auch völlig sinnlose und sogar schädliche Ratschläge gab. Am Ende blieb den Menschen nur Beten, und selbst das half nicht, beten hilft eben nicht gegen das Sterben, sondern gegen die Angst.

Am Ende galt die Pest als eine Strafe Gottes - was die Angst der Menschen nur noch steigerte und sie in den Wahnsinn des religiösen Fanatismus, der Hexenverbrennung, Judenverfolgung und der teilweise völligen Auflösung der Ordnung führte. Das Ganze war, aus heutiger Sicht, sehr unvernünftig, und die Religion spielte da eine unrühmliche Rolle: Die Kirche schürte noch die Angst.

 

Auch zur Zeit von Martin Luther wütete die Pest wieder einmal in Deutschland, und im Jahre 1527 kam sie auch nach Wittenberg. Und dazu hat Luther eine kleine Schrift verfasst, mit dem Titel: „Ob man vor dem Sterben fliehen solle“.

Und Luther antwortete - ganz modern : das hängt von den Umständen ab! Niemand ist verpflichtet, sich und andere unnötig in Gefahr zu bringen.

Allerdings unter einer Bedingung: Für das Wohl der Nächsten muss gesorgt sein. Die ganze Anstrengung muss, bei aller Sorge um die eigene Gesundheit, dahin gehen, Menschen nicht im Stich zu lassen und, wie wir heute sagen würden, die notwendige Balance zwischen der Sorge für sich und die Sorge für den andern zu finden. Und so gibt er ganz nüchterne Ratschläge:

Die Friedhöfe sollen aus den Städten verlegt werden, damit sie nicht ein Ort des Unheils werden; es sollen Krankenhäuser aus der öffentlichen Kasse eingerichtet werden und eine Fürsorge organisiert. Und dann, wir hören es wörtlich,

 

„Wenn  Gott tödliche Seuchen schickt, will ich Gott bitten, gnädig zu sein und  der Seuche zu wehren. Dann will ich das Haus räuchern und lüften,  Arznei geben und nehmen, Orte meiden, wo man mich nicht braucht, damit  ich nicht andere vergifte und anstecke und ihnen durch meine  Nachlässigkeit eine Ursache zum Tode werde.

Wenn  mein Nächster mich aber braucht, so will ich weder Ort noch Person  meiden, sondern frei zu ihm gehen und helfen. Siehe, das ist ein  gottesfürchtiger Glaube, der nicht tollkühn und dumm und dreist ist und  Gott nicht versucht.“

 

Das klingt sehr vernünftig. Und sehr vernünftig ist es auch, nicht in ein falsches und hochmütiges, dummdreistes Gottvertrauen zu verfallen und zu meinen, dem Frommen könne nichts passieren. Das wäre nach Luthers Sicht geradezu gotteslästerlich!

Das ist schon ein sehr anderer Ton als der des Pariser Pestgutachtens! Das ist der Ton, mit dem Reformation die Kirche und den Glauben, am Ende aber die gesamte Gesellschaft aus der Enge eines Glaubens, der auf Angst beruht, in die Freiheit eines Glaubens führte, der auf Vertrauen beruht und die Vernunft einsetzt.

 

Nun wissen wir heute so unendlich viel mehr und Besseres über die Herkunft, die Verbreitung und die Bekämpfung der Seuchen.

Die Befreiung der Vernunft, die nun frei war, nicht mehr mit der Bibel in der Hand die Welt zu erforschen, sondern auf die Fähigkeiten des Menschen zur Erkenntnis und zu Wahrheit zu vertrauen, hat uns Möglichkeiten des Lebens in die Hand gegeben, von der Luther nicht einmal träumen könnte und für die wir Gott nicht genug danken können.

Wir verstehen heute die Seuche nicht mehr als Strafe Gottes, sondern als Herausforderung an unsere Vernunft und unsern Glauben.

Sie ist eine Katastrophe wie andere auch, halb naturgemacht, halb menschengemacht, und wie andere Katastrophen fordert sie unsere Solidarität, unseren Gemeinschaftssinn und unser Vertrauen heraus.

Wir sind frei, uns nach dem zu richten, was vernünftig ist.

Luther sagt einmal ganz zugespitzt: die Christen machen neue 10 Gebote, wenn es die Zeit erfordert. Das Gesetz muss dem Menschen dienen, und die Liebe ist der Prüfstein! So richten wir das Gesetz auf, wie Paulus schreibt, das Gesetz der Liebe.

Und vernünftig ist es, auf die Wissenschaft zu hören und mit ihr um die Wahrheit zu streiten, vernünftig ist es, den Erkenntnissen der letzten 200 Jahre zu folgen, die uns so viel Segen gebracht haben, dass wir oft vergessen, wie zerbrechlich unser Leben ist.

Vernünftig ist es aber auch, auf Gott zu vertrauen! Das ist nämlich kein Gegensatz! Also heißt die Devise, die wir aus dem Impuls der Reformation aufnehmen: Auf Gott vertrauen und vernünftig sein. Luther hätte heute, dessen bin ich mir ziemlich sicher, harte Worte für den Leichtsinn und das Geschwätz gefunden, und vermutlich zum Maskentragen, zur Quarantäne, zur Hygiene geraten, zur Zurückhaltung in den Kontakten, denn es geht  geht um das Wohl des Nächsten und das Gemeinwohl: das wir anderen nicht durch unsere Nachlässigkeit ein Grund zum Tode werden!

Darum tun wir als Kirche gut daran, das auch in besondere Weise zu tun und unseren Beitrag zu leisten und so zu Zeugen für die Freiheit zu werden, die Gott uns schenkt. Wir halten uns an die Regeln nicht aus Zwang, sondern aus Freiheit und Einsicht.

Wir wissen, dass gemeinsames Singen gefährlich ist. Wir wissen, dass größere Menschenansammlungen gefährlich sind. Wir wissen, wie gefährlich der zu enge Kontakt ist.

Wir wissen, dass wir aus dieser Pandemie nur herauskommen, wenn wir auch bereit sind, Opfer zu bringen - aber was zählen die gegen Menschenleben? Und das größte Opfer, das wir werden brngen müssen, ist die zu schüzten, die Opfer bringen müssen bis an den Rand ihrer Existenz, die unter dem Lockdown leiden und in ihrer Lebensgrundlage bedroht werden. Es wird auch darum gehen, unseren Wohlstand dadurch zu wahren, dass wir ihn verteilen. Das wird die eigentliche Herausforderung werden!

Nicht Furcht und Sorge sollen uns bestimmen, aber auch nicht Gleichgültigkeit und Schulterzucken, nicht Panik und wirres Geschrei sollen uns bestimmen, auch nicht Zorn und Wut, sondern Nüchternheit, Besonnenheit und Maßhalten.

Der Verzicht auf den Gottesdienst, wie wir ihn kennen, der Verzicht auf den Gesang, der Verzicht auf enge, auch körperliche Gemeinschaft kommt uns hart an und trifft uns ins Mark.

Aber unser Heil hängt nicht daran. Die Kirche hat schon ganz andere Katastrophen überlebt, für Selbstmitleid und Gejammer gibt es keinen Grund. Trauer ja, Jammern nein!

Aber es gibt Grund zum Vertrauen: daran hängt unser Heil, nicht an Regeln und Gesetzen. Und Vertrauen führt in die Freiheit: Die Freiheit, unseren Glauben so zu gestalten wie die Zeiten es zulassen. Jetzt, in der Zeit der Seuche, bewährt sich die Kirche als Sorgegemeinschaft: Sorge für uns, Sorge für den Nächsten, Sorge für die Gesellschaft.

Wenn wir als Kirche uns an diese Regeln halten, ist das nicht Staatshörigkeit oder Untertanengeist, wie oft geschwätzt wird, sondern Vernunft, die aus der Liebe geboren wird. So, liebe Gemeinde, liebe Schwestern und Brüder, liebe Mitmenschen, so halten wir das Erbe der Reformation in Ehren:

Wir folgen der von der Angst befreiten Vernunft, die nach dem Wohl des Menschen fragt. Gott gebe uns dazu seinen Geist und lehre uns recht beten!

Und wir freuen uns jetzt schon darauf, dass wir auch aus diesem finsteren Tal zum frischen Wasser geführt werden.

Und ich freue mich schon auf den ersten Gottesdienst, den wir wieder in voller Pracht und Glanz feiern können, wann immer das sein wird.

Bis dahin aber: Bleibt vernünftig, um Gottes und der nächsten Willen, haltet Euch an die Regeln, nicht, weil sie von Gott kommen, sondern weil sie vernünftig sind und Ausdruck der tätigen Nächstenliebe.

Und dankt Gott für den Segen der Wissenschaft, die es bisher geschafft hat, diese Seuche nicht zu einer Katastrophe werden zu lassen und uns aus dem Dunkel der wirren Theorien geholt hat, die wir am Anfang gehört haben.

Lasst uns, in aller Freiheit, alles dafür tun, dass es so bleibt. Gott ist mit uns, er ist unsere feste Burg, nicht unser Gefängnis.

 

Amen.  

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