Freitag, 16. Oktober 2020

Das Jahr, in dem Weihnachten verboten wurde.

 

Das Jahr, in dem Weihnachten verboten wurde. Eine Vision.

Roland Kupski, vermutlich 1996

Eines Tages geschah es.

Weihnachten wurde verboten. Als Folge des Kruzifixurteiles wurden das öffentliche Aufstellen, Verkaufen und Verbreiten von Weihnachts­symbolen aller Art, von Dekoration und Lampchen, von Tannengrün und Weihnachtsrot, Engeln und Krippen unter Andro­hung von Ge­schäftsschließungen und hohen Bußgeldern gesetzlich untersagt. Weih­nachtsfeiern, auf denen weihnachtliches Gebäck gereicht, fromme Worte gesprochen und saisonale Lieder abgesungen wurden, sollten im Vorkommensfalle von der Polizei aufgelöst wer­den, die Veranstalter in Beugehaft genommen und die Teilnehmer erkennungsdienstlich behandelt werden. Schnüffeltruppen der Gesundheitsämter gingen durch die Häuser, und wo es nach Plätzchen duftete, wurde eingeschritten. Lastwagen voller Weihnachtsbedarf aus der ganzen Welt wurden bereits an der Grenze abgefangen. Die volkstümliche Hitparade enthielt nicht ein ein­ziges "Vom Himmel hoch" oder "Heidschi bum beidschi", der Dresd­ner Kreuzchor sang "Oh Haupt voll Blut und Wunden" als Höhepunkt seines Dezember­konzertes, und die Kurrende führte nicht das Bach'sche Weih­nachtsoratorium auf, sondern die Kantate "Ich habe genug" von Jo­hann Sebastian Bach.

Den Pfarrer und Pfarrerinen wurde am 1. Dezember schriftlich das Abhalten von Weihnachtsogtttesdiensten untersagt, die weihnachtli­che Urlaubssperre wurde aufgehoben und alle Pfarrer und Pfarrerin­nen aufgefordert, zu verreisen. Im Bayerischen Wald und anderen Ski- und Wandergebieten war in Folge davon kaum noch ein Zim­mer zu bekommen.

Als Predigttexte wurden verordnet ein Text des Propehten Amos (Amos 5,21): "Ich bin euren Feiertagen gram, spricht der Herr, und mag eure Versammlungen nicht riechen. Tu weg von mir das Geplärr deiner Lie­der, denn ich mag dein Harfenspiel nicht hören. Es ströme aber das Recht wie Wasser und die Gerechtigkeit wie ein nie versiegender Bach!"

Am 23. 12. wurden zur Vorsicht die Kirchenschlüssel eingezogen und dem Landrat übergeben, wi­despenstige Küster und Küsterinnen kamen in Beugehaft.

Weihnachten war verboten.

Und was geschah? Die Menschen atmeten auf. Endlich freie Zeit in diesen Wochen. Endlich war der Geschenkestress zu Ende. Nirgendwo dudelte Weihanchtsmusik schon im Oktober, nirgends mußte stunden­lang herumtelefoniert werden, um Termine für Weihanchstfeiern zu machen und die Verwandtschaft zusammenzu­trommeln. Bürgermeister, Pfarrer und Vereinsmenschen hatten ein paar freie Abende, an denen sie Kegeln gingen oder Fernsehen guckten, falls sie nicht einfach einen Abend lang mit der Familie zu­sammensassen, ohne etwas sogenanntes Nützliches zu tun. Die Frommen versammelten sich heimlich zum Ge­bet und zu Klagegot­tesdiensten, denn war Advent nicht eine Bußzeit, ein Zeit der Ein­kehr gewesen? Und weil es dunkel war und still in den Städten und auf den Strassen, kamen viele zum Nachdenken, trauten sich, sich zu erinnern und auch den Kummer und die Sehnsucht nach vergan­genen Zeiten auszuhalten. Und sie spürten, daß es ihnen guttat, was sie sonst fürchteten, und vielen fanden in den stillen, dunklen Nächten wieder den Schlaf, den sie verloren hatten.

Die alten Menschen fingen an, sich in der freigewordenen Zeit zu besu­chen, Eltern und Kinder gingen ins Schwimmbad oder machten sonst etwas Schönes.

Zwei Wochen vor Weihnachten aber begann etwas Merkwürdiges. Die Kinder spürten, daß mit den Erwachsenen etwas nicht stimmte, und sie fragten: "Was ist denn los?" Und die Erwachsenen fingen an zu erzählen, aber leise, flüsternd, denn man wußte ja nie, ob nicht ein Weihnachtsspitzel in der Nähe war: "Früher feierten wir in diesen Wochen ein tolles Fest, Weihnachten genannt. Wir stellten einen Weihnachtsbaum auf und sangen Lieder, wir gingen in die Kirche, wir buken Plätzchen und ganz besondere Kuchen". Und die Kinder frugen weiter: "Und warum das? Wozu?" Und die Erwachsenen schauten sich an, und merkten plötzlich: so genau wußten sie es gar nicht. Sie kramten heim­lich, nachts, bei Licht von Taschenlampen und vorge­zogenen Vorhängen, ihre Bibeln und ihre Kinderbücher wieder her­aus und lasen es nach: "Stimmt ja, das hatte doch etwas mit Gott zu tun, war da nicht nicht die Geburt Gottes in der Welt?" "Gott, wer ist das, kann der denn geboren werden?" frugen die Kinder weiter, wie sie so sind, und die Erwachsenen sahen sich in die Augen und merkten: darauf konnten sie nun schon gar nicht mehr antworten. Heimlich traf man sich, getarnt als Sitzungen des Personlarates, des Gemeindevorstandes, als Jahres­hauptversammlung traf man sich bei Glühwein - der aber nicht Glühwein genannt wer­den durfte - und sprach darüber, was Weihnach­ten war und ist. Die alten Leute wurde auf­gefordert zu erzählen: "Wie war das denn da­mals, als Weihnachten noch ein christliches Fest war" - und sie be­richteten, und man erinnerte sich. Den Kin­dern wurde aber so weinig wie möglich erzählt, damit sie nicht in der Öffentlichkeit herumschwätzen und die Eltern in Schwierigkeiten brach­ten. Geschäftsleute orderten heimlich Weihnachtssachen, aber nur ganz kleine Dinge, die sie unter größter Gefahr aus dem Ausland herein­schmuggelten oder im Schutze der Nacht anfertigen ließen. Und nur gegen ein Losungswort: "Heilige Nacht" wurde unter dem Ladentisch etwas davon verkauft.

Die Vorhänge wurden vorgezogen, in der Nacht wurden Plätzchen ge­backen, bei geöffneten Sauerkrautfaß, damit niemand den Duft riecht. Die Gemeindbriefe wurden mit Zitronensaft geschrieben, und nur wer sie unter das Bügeleisen legte, konnte die Weihnachstbotschaft nachlesen; die wenige Briefe, die es deswegen gab, wurden wie kostbare Kaßiber aus einer anderen Welt weitergereicht, fo­tokopierte Blätter gingen von Hand zu Hand, heimlich wurden Komitees zur Planung des Widerstandes gegründet. Die Pfarrer und Pfarrerinnen verreisten zum Schein, kehrten aber alle am 20. 12. wieder zurück und zogen bei Ihren Küstern ein, um in aller Stille Weihnachtsgottesdienste vorzubereiten. Die Kinder der Kurrende trafen sich in Zivil und wie zufällig im Altersehim und im Gemein­dehaus, im Krankenhaus und ihren Häusern und sangen vorsichtig, leise, ein Weihnachtslied. Die Kinder waren verrückt vor Aufregung, denn sie spürten: etwas ganz und gar Geheimnis­volles war da am Gange, am 24.12. wird irgendetwas Ungeheures ge­schehen, man munkelte etwas von Geschenken und gemeinsam Singen und von Geschichten aus der Bibel, was mag das bloá sein? Und die vielen, vielen Menschen, die früher unter Weihnachten litten, weil es für sie das traurigste, entzsetzlichste und schwerste Fest des Jahres war, sie trafen sich nun und sprachen darüber, daá Weihnachten sie eigen­lich immer traurig gemacht hat, daß sie das aber nie sagen durften, und es bildeten sich heimliche Gesprächskreise: "Trauer an der Weihnacht", und sie trauten sich nun - in aller Freiheit - auf die Friedhö zu gehen und zu trauren, denn jetzt war ja plötlzlich keine Freude mehr verordnet. Und all die Familien, die sich immer an Weihnachten gestritten haben, weil sie es einfach nicht aushielten, vier füf Tage untäig zu­sammengepfercht zu sein zu einen Fest, das kaum einer mehr verstand, wurden plözlich verschworene Gemein­schaften, zusammengehalten durch das Gefül, etwas Verbotenes, aber ganz und gar Wichtiges zu tun. Am 22. 12. erreichte die Spannung ihren Höepunkt, endlich wurde den Kindern erzält, worum es wirklich ging, und völig atemlos hörten die Geschichte davon, wie Gott als ein Kind geboren wurde, um der Welt eine Hoffnung zu bringen und die Menschen zur Liebe und zum Frieden zu bewegen. Und die Erwachsenen höen zum ersten Mal seit ihrer eigenen Kindheit die Geschichte wieder als eine Ge­schichte von Le­ben unter schwierigsten Bedingungen, als eine Ge­schichte von der Freiheit fü die Benachteiligten und Armen, tausend­mal gehöt, aber nun zum ersten Mal verstanden: "Kommet ihr Hirten" wurde zur Losung fü heimliche Weihnachtsversammlungen. Die alten Lieder und Texte wurden auswendig gelernt, denn wer mit einem Ge­sangbuch erwischt wurde, kam drei Tage ins Gefägnis.

Damit die Menschen in Ruhe und in der gebotenen Heimlichkeit ihre Vorbereitungen treffen konnten, machten viele L„den schon am 22. 12. Betriebsferien oder feierten krank, es kehrte nie gekannte Ruhe ein in das Land, die Menschen gingen spazieren und grüßtesich verschwo­ren mit dem alten Engelsgruß "Friede sei mit dir", und daran erkannten sie sich, und die Pfarrer und Pfarrerinnen wa­ren von Morgens bis Abends unterwegs, weil die erinnerungsschwe­ren Tage nach dem Gespräh drägten; und es waren gute Tage fü sie, denn zum ersten Mal konn­ten sie aus vollem Herzen das tun, was sie ge­lernt hatten und wozu sie da sind.

Das ganze Land war von einer Spannung erfült, wie man sie nur kannte, als man noch ein ganz kleines Kind war. Es war wie das erste Mal Weihnachten.

Am 24. 12 geschah es dann, die Menschen versammelten sich vor den Kirchen und vor den Gemeindehäsern, auf den Marktpläzen und in den Parks, sie züdeten Kerzen an und sangen "O du Fröli­che", und die Polizei marschierte auf, aber nach 20 Takten warfen die Polizisten ihre Schilde weg und sangen mit, der BGS ließdie Wasserwerfer in den Himmels sprüen, sodaßdas Wasser als Schnee herabfiel, die Kinder fingen an, sich zu erinnern und die Alten auch, und es wurden schnell ein paar bunte Tüher hervorgekramt und Krippenspiele improvisiert, vor den Kirchentüen standen Gruppen von Jugendlichen und jungen Menschen, von denen viele seit der Konfirmation dort nicht mehr gesehen waren und skandierten in Chor: "Die Tüe mußauf, die Tüe mußauf" und: "Wir sind das Gottesvolk, wir sind das Gottesvolk."

Die Geschätsleute nahmen sich ein Herz und schmükten nur fü diese eine Nacht die Städte und die Fenster und die Häuser, und mit einem Male erstrahlte alles in einem Glanz, der schier überwältigte nach den langen, dunklen Wochen, es war ein Singen und ein sich Freuen, das THW brachte Gulaschkanonen voll Glühwein, das Rote Kreuz verteilte Spekulatius und Stollen, die AWO hatte eine Kapelle besorgt und die spielte "Brüder, zur Sonne zur Freiheit, Schwestern zu Christus em­por" -

und verstohlen wurden aus den Manteltaschen kleine Päckchen ge­holt, so klein, daß sie nicht auftrugen, denn man wußte ja nie, ob nicht doch ein Weihanchstspitzel dabei war und man schenkte wild­fremden Leute etwas Nettes, und die, die Weihanchten immer trau­rig und allein zu Hause sassen, genossen es, unter Menschen zu sein; und sie durften hemmunglos weinen und sich an die Schulten wild­fremder Menschen legen und die Obdachlosen unter den Brücken kamen dazu, alles lag sich in den Armen für diese eine Nacht, und man lud sich ein für den nächsten Tag: "Aber ewartet nicht zuviel, Ihr wißt ja, man bekam ja nichts, wir haben nur Kochwürst­chen und Kartoffelsalat, ihr müßt was mit­bringen", - 

und da öffneten sich plötzlich sich die Kir­chentüren, die Kurrende kam singend heraus, die Pfarrer strahlten und verkündeten das Wort mit nie gekannter Vollmacht, weil sie zum ersten Mal wirklich Zeit hatten, das Fest intensiv mit Gebet und Meditation vorzubereiten; die Orgeln sausten und brausten, daß die Luft zu zittern schien, und es machte sich atemlose Stille breit, als die Stimme der Lektoren und Lektorinnen ertönte: "Siehe, euch ist große Freude wie­derfahren, denn euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist Chri­stus, der Sohn Gottes", und es erhob sich großer Jubel unter den Men­schen, es war Weihnachten geworden wie es noch nie war, in dem Jahr, als Weihnachten verboten wurde. Am andern Tag wurden die Bi­beln herausgeholt, und man las die Geschichte wieder und wieder, und jeder verstand, was Freiheit ist, und jeder ahnte, wie es ist, getröstet zu werden in dieser Nacht, und jeder spürte das Geheimnis dieser Nacht, das für Jahrzehnte vorher vom Rummel übertont und vom falschen Glanz der Lichter überstrahlt worden war, und das gesparte Geld wurde gesammelt und nach Bosnien ge­schickt und nach Rußland und nach Afrika, und als eine Woche später die Danktelegramme eintrafen, als die Fernseher voll von den Bildern überglcklicher Menschen waren, die auf einmal in dieser Zeit zu essen und trinken hatten, die auf einmal ganz körperlich spürten, daß Weihnachten das Fest der Liebe und der Solidarität ist, als die Telegramme eintrafen voller Dank und Freude, brachen alle in Tränen aus, denn das war das schönste Geschenk, das uns je ge­macht wurde, keiner hatte ein Geschäft gemacht und doch waren alle reich geworden, das alles geschah in dem Jahr, als Weihnachten verbo­ten wurde.

 

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