Das Jahr, in dem Weihnachten verboten
wurde. Eine Vision.
Roland Kupski, vermutlich 1996
Eines Tages geschah es.
Weihnachten wurde verboten. Als Folge des
Kruzifixurteiles wurden das öffentliche Aufstellen, Verkaufen und Verbreiten
von Weihnachtssymbolen aller Art, von Dekoration und Lampchen, von Tannengrün
und Weihnachtsrot, Engeln und Krippen unter Androhung von Geschäftsschließungen
und hohen Bußgeldern gesetzlich untersagt. Weihnachtsfeiern, auf denen
weihnachtliches Gebäck gereicht, fromme Worte gesprochen und saisonale Lieder
abgesungen wurden, sollten im Vorkommensfalle von der Polizei aufgelöst werden,
die Veranstalter in Beugehaft genommen und die Teilnehmer erkennungsdienstlich
behandelt werden. Schnüffeltruppen der Gesundheitsämter gingen durch die
Häuser, und wo es nach Plätzchen duftete, wurde eingeschritten. Lastwagen
voller Weihnachtsbedarf aus der ganzen Welt wurden bereits an der Grenze
abgefangen. Die volkstümliche Hitparade enthielt nicht ein einziges "Vom
Himmel hoch" oder "Heidschi bum beidschi", der Dresdner
Kreuzchor sang "Oh Haupt voll Blut und Wunden" als Höhepunkt seines
Dezemberkonzertes, und die Kurrende führte nicht das Bach'sche Weihnachtsoratorium
auf, sondern die Kantate "Ich habe genug" von Johann Sebastian Bach.
Den Pfarrer und Pfarrerinen wurde am 1.
Dezember schriftlich das Abhalten von Weihnachtsogtttesdiensten untersagt, die
weihnachtliche Urlaubssperre wurde aufgehoben und alle Pfarrer und Pfarrerinnen
aufgefordert, zu verreisen. Im Bayerischen Wald und anderen Ski- und
Wandergebieten war in Folge davon kaum noch ein Zimmer zu bekommen.
Als Predigttexte wurden verordnet ein Text
des Propehten Amos (Amos 5,21): "Ich bin euren Feiertagen gram, spricht
der Herr, und mag eure Versammlungen nicht riechen. Tu weg von mir das Geplärr
deiner Lieder, denn ich mag dein Harfenspiel nicht hören. Es ströme aber das
Recht wie Wasser und die Gerechtigkeit wie ein nie versiegender Bach!"
Am 23. 12. wurden zur Vorsicht die
Kirchenschlüssel eingezogen und dem Landrat übergeben, widespenstige Küster
und Küsterinnen kamen in Beugehaft.
Weihnachten war verboten.
Und was geschah? Die Menschen atmeten auf.
Endlich freie Zeit in diesen Wochen. Endlich war der Geschenkestress zu Ende.
Nirgendwo dudelte Weihanchtsmusik schon im Oktober, nirgends mußte stundenlang
herumtelefoniert werden, um Termine für Weihanchstfeiern zu machen und die
Verwandtschaft zusammenzutrommeln. Bürgermeister, Pfarrer und Vereinsmenschen
hatten ein paar freie Abende, an denen sie Kegeln gingen oder Fernsehen
guckten, falls sie nicht einfach einen Abend lang mit der Familie zusammensassen,
ohne etwas sogenanntes Nützliches zu tun. Die Frommen versammelten sich
heimlich zum Gebet und zu Klagegottesdiensten, denn war Advent nicht eine
Bußzeit, ein Zeit der Einkehr gewesen? Und weil es dunkel war und still in den
Städten und auf den Strassen, kamen viele zum Nachdenken, trauten sich, sich zu
erinnern und auch den Kummer und die Sehnsucht nach vergangenen Zeiten
auszuhalten. Und sie spürten, daß es ihnen guttat, was sie sonst fürchteten, und
vielen fanden in den stillen, dunklen Nächten wieder den Schlaf, den sie
verloren hatten.
Die alten Menschen fingen an, sich in der
freigewordenen Zeit zu besuchen, Eltern und Kinder gingen ins Schwimmbad oder
machten sonst etwas Schönes.
Zwei Wochen vor Weihnachten aber begann
etwas Merkwürdiges. Die Kinder spürten, daß mit den Erwachsenen etwas nicht
stimmte, und sie fragten: "Was ist denn los?" Und die Erwachsenen
fingen an zu erzählen, aber leise, flüsternd, denn man wußte ja nie, ob nicht
ein Weihnachtsspitzel in der Nähe war: "Früher feierten wir in diesen
Wochen ein tolles Fest, Weihnachten genannt. Wir stellten einen Weihnachtsbaum
auf und sangen Lieder, wir gingen in die Kirche, wir buken Plätzchen und ganz
besondere Kuchen". Und die Kinder frugen weiter: "Und warum das?
Wozu?" Und die Erwachsenen schauten sich an, und merkten plötzlich: so
genau wußten sie es gar nicht. Sie kramten heimlich, nachts, bei Licht von
Taschenlampen und vorgezogenen Vorhängen, ihre Bibeln und ihre Kinderbücher
wieder heraus und lasen es nach: "Stimmt ja, das hatte doch etwas mit
Gott zu tun, war da nicht nicht die Geburt Gottes in der Welt?"
"Gott, wer ist das, kann der denn geboren werden?" frugen die Kinder
weiter, wie sie so sind, und die Erwachsenen sahen sich in die Augen und
merkten: darauf konnten sie nun schon gar nicht mehr antworten. Heimlich traf
man sich, getarnt als Sitzungen des Personlarates, des Gemeindevorstandes, als
Jahreshauptversammlung traf man sich bei Glühwein - der aber nicht Glühwein
genannt werden durfte - und sprach darüber, was Weihnachten war und ist. Die
alten Leute wurde aufgefordert zu erzählen: "Wie war das denn damals,
als Weihnachten noch ein christliches Fest war" - und sie berichteten,
und man erinnerte sich. Den Kindern wurde aber so weinig wie möglich erzählt,
damit sie nicht in der Öffentlichkeit herumschwätzen und die Eltern in
Schwierigkeiten brachten. Geschäftsleute orderten heimlich Weihnachtssachen,
aber nur ganz kleine Dinge, die sie unter größter Gefahr aus dem Ausland hereinschmuggelten
oder im Schutze der Nacht anfertigen ließen. Und nur gegen ein Losungswort:
"Heilige Nacht" wurde unter dem Ladentisch etwas davon verkauft.
Die Vorhänge
wurden vorgezogen, in der Nacht wurden Plätzchen gebacken, bei geöffneten Sauerkrautfaß,
damit niemand den Duft riecht. Die Gemeindbriefe wurden mit Zitronensaft
geschrieben, und nur wer sie unter das Bügeleisen legte, konnte die
Weihnachstbotschaft nachlesen; die wenige Briefe, die es deswegen gab, wurden
wie kostbare Kaßiber aus einer anderen Welt weitergereicht, fotokopierte
Blätter gingen von Hand zu Hand, heimlich wurden Komitees zur Planung des
Widerstandes gegründet. Die Pfarrer und Pfarrerinnen verreisten zum Schein,
kehrten aber alle am 20. 12. wieder zurück und zogen bei Ihren Küstern ein, um
in aller Stille Weihnachtsgottesdienste vorzubereiten. Die Kinder der Kurrende
trafen sich in Zivil und wie zufällig im Altersehim und im Gemeindehaus, im
Krankenhaus und ihren Häusern und sangen vorsichtig, leise, ein Weihnachtslied.
Die Kinder waren verrückt vor Aufregung, denn sie spürten: etwas ganz und gar
Geheimnisvolles war da am Gange, am 24.12. wird irgendetwas Ungeheures geschehen,
man munkelte etwas von Geschenken und gemeinsam Singen und von Geschichten aus
der Bibel, was mag das bloá sein? Und die vielen, vielen Menschen, die früher
unter Weihnachten litten, weil es für sie das traurigste, entzsetzlichste und
schwerste Fest des Jahres war, sie trafen sich nun und sprachen darüber, daá
Weihnachten sie eigenlich immer traurig gemacht hat, daß sie das aber nie
sagen durften, und es bildeten sich heimliche Gesprächskreise: "Trauer an
der Weihnacht", und sie trauten sich nun - in aller Freiheit - auf die
Friedhö zu gehen und zu trauren, denn jetzt war ja plötlzlich keine Freude mehr
verordnet. Und all die Familien, die sich immer an Weihnachten gestritten
haben, weil sie es einfach nicht aushielten, vier füf Tage untäig zusammengepfercht
zu sein zu einen Fest, das kaum einer mehr verstand, wurden plözlich
verschworene Gemeinschaften, zusammengehalten durch das Gefül, etwas
Verbotenes, aber ganz und gar Wichtiges zu tun. Am 22. 12. erreichte die
Spannung ihren Höepunkt, endlich wurde den Kindern erzält, worum es wirklich
ging, und völig atemlos hörten die Geschichte davon, wie Gott als ein Kind
geboren wurde, um der Welt eine Hoffnung zu bringen und die Menschen zur Liebe
und zum Frieden zu bewegen. Und die Erwachsenen höen zum ersten Mal seit ihrer
eigenen Kindheit die Geschichte wieder als eine Geschichte von Leben unter
schwierigsten Bedingungen, als eine Geschichte von der Freiheit fü die
Benachteiligten und Armen, tausendmal gehöt, aber nun zum ersten Mal
verstanden: "Kommet ihr Hirten" wurde zur Losung fü heimliche
Weihnachtsversammlungen. Die alten Lieder und Texte wurden auswendig gelernt,
denn wer mit einem Gesangbuch erwischt wurde, kam drei Tage ins Gefägnis.
Damit die Menschen in Ruhe und in der
gebotenen Heimlichkeit ihre Vorbereitungen treffen konnten, machten viele L„den
schon am 22. 12. Betriebsferien oder feierten krank, es kehrte nie gekannte
Ruhe ein in das Land, die Menschen gingen spazieren und grüßtesich verschworen
mit dem alten Engelsgruß "Friede sei mit dir", und daran erkannten
sie sich, und die Pfarrer und Pfarrerinnen waren von Morgens bis Abends
unterwegs, weil die erinnerungsschweren Tage nach dem Gespräh drägten; und es
waren gute Tage fü sie, denn zum ersten Mal konnten sie aus vollem Herzen das
tun, was sie gelernt hatten und wozu sie da sind.
Das ganze Land war von einer Spannung
erfült, wie man sie nur kannte, als man noch ein ganz kleines Kind war. Es war
wie das erste Mal Weihnachten.
Am 24. 12 geschah es dann, die Menschen
versammelten sich vor den Kirchen und vor den Gemeindehäsern, auf den
Marktpläzen und in den Parks, sie züdeten Kerzen an und sangen "O du Fröliche",
und die Polizei marschierte auf, aber nach 20 Takten warfen die Polizisten ihre
Schilde weg und sangen mit, der BGS ließdie Wasserwerfer in den Himmels sprüen,
sodaßdas Wasser als Schnee herabfiel, die Kinder fingen an, sich zu erinnern
und die Alten auch, und es wurden schnell ein paar bunte Tüher hervorgekramt
und Krippenspiele improvisiert, vor den Kirchentüen standen Gruppen von
Jugendlichen und jungen Menschen, von denen viele seit der Konfirmation dort
nicht mehr gesehen waren und skandierten in Chor: "Die Tüe mußauf, die Tüe
mußauf" und: "Wir sind das Gottesvolk, wir sind das Gottesvolk."
Die Geschätsleute nahmen sich ein Herz und
schmükten nur fü diese eine Nacht die Städte und die Fenster und die Häuser,
und mit einem Male erstrahlte alles in einem Glanz, der schier überwältigte
nach den langen, dunklen Wochen, es war ein Singen und ein sich Freuen, das THW
brachte Gulaschkanonen voll Glühwein, das Rote Kreuz verteilte Spekulatius und
Stollen, die AWO hatte eine Kapelle besorgt und die spielte "Brüder, zur
Sonne zur Freiheit, Schwestern zu Christus empor" -
und verstohlen wurden aus den
Manteltaschen kleine Päckchen geholt, so klein, daß sie nicht auftrugen, denn
man wußte ja nie, ob nicht doch ein Weihanchstspitzel dabei war und man
schenkte wildfremden Leute etwas Nettes, und die, die Weihanchten immer traurig
und allein zu Hause sassen, genossen es, unter Menschen zu sein; und sie
durften hemmunglos weinen und sich an die Schulten wildfremder Menschen legen
und die Obdachlosen unter den Brücken kamen dazu, alles lag sich in den Armen
für diese eine Nacht, und man lud sich ein für den nächsten Tag: "Aber
ewartet nicht zuviel, Ihr wißt ja, man bekam ja nichts, wir haben nur Kochwürstchen
und Kartoffelsalat, ihr müßt was mitbringen", -
und da öffneten sich plötzlich sich die
Kirchentüren, die Kurrende kam singend heraus, die Pfarrer strahlten und
verkündeten das Wort mit nie gekannter Vollmacht, weil sie zum ersten Mal
wirklich Zeit hatten, das Fest intensiv mit Gebet und Meditation vorzubereiten;
die Orgeln sausten und brausten, daß die Luft zu zittern schien, und es machte
sich atemlose Stille breit, als die Stimme der Lektoren und Lektorinnen
ertönte: "Siehe, euch ist große Freude wiederfahren, denn euch ist heute
der Heiland geboren, welcher ist Christus, der Sohn Gottes", und es erhob
sich großer Jubel unter den Menschen, es war Weihnachten geworden wie es noch
nie war, in dem Jahr, als Weihnachten verboten wurde. Am andern Tag wurden die
Bibeln herausgeholt, und man las die Geschichte wieder und wieder, und jeder
verstand, was Freiheit ist, und jeder ahnte, wie es ist, getröstet zu werden in
dieser Nacht, und jeder spürte das Geheimnis dieser Nacht, das für Jahrzehnte
vorher vom Rummel übertont und vom falschen Glanz der Lichter überstrahlt
worden war, und das gesparte Geld wurde gesammelt und nach Bosnien geschickt
und nach Rußland und nach Afrika, und als eine Woche später die Danktelegramme
eintrafen, als die Fernseher voll von den Bildern überglcklicher Menschen
waren, die auf einmal in dieser Zeit zu essen und trinken hatten, die auf
einmal ganz körperlich spürten, daß Weihnachten das Fest der Liebe und der
Solidarität ist, als die Telegramme eintrafen voller Dank und Freude, brachen
alle in Tränen aus, denn das war das schönste Geschenk, das uns je gemacht
wurde, keiner hatte ein Geschäft gemacht und doch waren alle reich geworden,
das alles geschah in dem Jahr, als Weihnachten verboten wurde.
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