Was ist das mit dem
Karfreitag? Was begehen wir hier? Was wird hier vollbracht, wie es Jesus in
seinem letzten Wort sagte?
Der Tag, einst der
wichtigste evangelische Feiertag, wird immer weniger beachtet, ja vielen ist er
peinlich, manchem sogar anstößig: Wird hier nicht das Leiden verherrlicht? Wir
hier nicht auf peinliche Wiese das Ekelhaftestes und Übelste am Menschen sichtbar
gemacht, um ihn zu demütigen und zu erniedrigen?
Es ist genau andersherum.
Der Karfreitag ist der zutiefst menschliche Tag, der wie kein anderer deutlich
macht, wie es um uns Menschen bestellt ist. Es war der Tag, an dem die
Menschen, vertreten durch Juden und Heiden, wie wir es in der Lesung gehört
haben, versucht haben, Gott aus der Welt zu drängen. Es war der Tag des
abrundtief Bösen. Wir reden aber von
ihm, weil an diesem abgrundtief Bösen zugleich die abgründige Tiefe der Liebe
Gottes sichtbar wurde.
Das klingt sehr theologisch,
sehr abgehoben und sehr fern. ich will daher versuchen, es ein wenig deutlicher
zu machen. Und dazu nehme ich einen Jahrestag zum Anlass, den wir in diesen
Tagen auch begehen: Das Ende des 2. Weltkrieges und damit auch das Ende der
Schreckensherrschaft des Nationalsozialismus in Deutschland. In diesen Tagen
des Jahres 1945 kamen die amerikanischen Truppen im Raum Kassel an, in der
Stadt Kassel am 4. April. Die entscheidende Wende für die deutsche Geschichte
ereignete sich in der Wochen zwischen Karfreitag und Himmelfahrt. Für Baunatal
kam das Kriegsende sogar am 1. April, direkt am Ostersonntag.
Aus christlicher Sicht ist
diese letzte Woche des Krieges von besonderer symbolischer Bedeutung: Es war
der Mittwoch nach Ostern, in der österlichen Freudenwoche also, als die 80.
Infanteriedivision der US-Armee über die Wilhelmshöher Allee in Kassel eintraf.
Damit war der Krieg für Kassel zu Ende. Und es war der nach christlichem Kalender
dunkelste und finsterte Tag des Jahres, Karsamstag, als dort in Kassel, in
Wilhelmshöhe, in letzter Minute, 78 italienische Zwangsarbeiter erschossen
wurden. Sie hatten sich, als das Ende des Krieges schon zu sehen war und die
meisten Nazis sich längst aus dem Staub gemacht hatten, an Plünderungen
beteiligt: Es ging um einige Güterwagen mit Nahrungsmitteln; und sie waren
nicht allein, auch die Kasseler Bevölkerung beteiligte sich daran. Diese 78
Italienischen Kriegsgefangenen, die als Zwangsarbeiter nach Kassel verschleppt
wurden, aber wurden am Karsamstag des Jahres 1945 hingerichtet, als der
Geschützdonner der Amerikaner hinter dem Herkules schon zu hören war. Ein
unbegreifliches Verbrechen, selbst nach den Standards des internationalen
Kriegsrechtes. Das dies am Karsamstag geschah, ist von tiefer symbolischer
Bedeutung. Denn der Karsamstag ist der dunkelste Tag für uns Christen, weil an
ihm die Grabesstille des toten Gottes herrschte. An ihm war das mörderische Werk
des Karfreitag scheinbar an ihr Ziel gekommen: die Liebe, die Gerechtigkeit,
das Erbarmen, das sich in Jesus Christus in der Welt gezeigt hat, aus der Welt
zu schaffen. Der Karsamstag ist der Tag, an dem es aussieht, als habe das abgrundtief
Böse gesiegt. So haben es die Jünger und Jüngerinnen Jesu auch erlebt. Der
Schrecken war masslos.
Was ist das abgrundtiefe
Böse? Das ist der Hass auf das Leben
schlechthin, aus dem aller Hass auf das Andere und Fremde und auf alles, was
uns an uns selber hassenswert und fremd erscheint, seine Quelle hat. Die alte
christliche Überzeugung, die man sich heute oft nur noch hinter vorgehaltener
Hand zu sagen traut, steht uns am Karsamstag vor Augen: das abrundtief Böse ist
eine Möglichkeit des Menschen, und nur des Menschen, denn nur er kann das Böse
wollen oder eben auch nicht wollen. Und darum kann man auch nur beim Menschen
von Schuld sprechen. Es hätte nicht sein müssen, heißt der Satz, der die Schuld
sichtbar und offenbar macht. Es ist ein vernichtender Satz, ein lähmender Satz.
Es ist ein vernichtender Satz, wenn er nicht zugleich mit dem Satz gesagt wird,
dass Schuld vergeben werden kann. Aber dieser zweite Satz darf nicht zu früh
kommen. Dann wird er eine Ausflucht. Dann wird er das, was der Theologe
Dietrich Bonhoeffer die „billige Gnade“ genannt hat. Er starb übrigens, auch
dessen sollten wir gedenken, ebenfalls in letzter Minute durch die Hand des
Henkers am 9. April 1945, als einer der wenigen Christen, der öffentlich und
unter Einsatz seines Lebens gegen das abgrundtief Böse aufgestanden ist. Das
gibt ihm das Recht, von der billigen Gnade zu sprechen, die allzuschnell, allzu
eilfertig, allzu wenig aus echter Buße und Reue heraus auf die Knie geht.
So ist der Jahrestag des
Kriegsendes für uns Deutsche nach wie vor ein zwiespältiges Ereignis, indem
sich das Zusammenspiel von Karfreitag und Ostersonntag spiegelt: Über der
Freude und der Dankbarkeit über das Ende des Krieges liegt der Schatten der
wachsenden Erkenntnis der Schuld – jener Schuld, die eben auch daraus entsteht,
dass man nicht gegen das Böse aufsteht und schweigt. Auch die Kirchen haben
sich hier schuldig gemacht. Wenn es auch im Einzelnen, in der historischen
Tiefe und genau betrachtet, viele Formen von Widerständigkeit, Verweigerung, Widerspruch
und von schlichter Humanität auch in den Reihen der Kirchen gab, so muss man im
Rückblick mit Schrecken erkennen, dass auch die Kirche vieles mitangesehen hat
– und da und dort sogar: mitgetragen und mitgemacht hat –, was im Rückblick nur
noch mit Scham und Erschrecken betrachtet werden kann. Schon im Oktober 1945,
anlässlich der Neugründung der Evangelischen Kirche in Deutschland, wurde von
führenden Vertretern diese Schuld benannt und öffentlich bekannt: „Durch uns
ist unendliches Leid über viele Völker und Länder gebracht worden. Was wir
unseren Gemeinden oft bezeugt haben, das sprechen wir jetzt im Namen der ganzen
Kirche aus: Wohl haben wir lange Jahre hindurch im Namen Jesu Christi gegen den
Geist gekämpft, der im nationalsozialistischen Gewaltregiment seinen
furchtbaren Ausdruck gefunden hat; aber wir klagen uns an, daß wir nicht
mutiger bekannt, nicht treuer gebetet, nicht fröhlicher geglaubt und nicht
brennender geliebt haben.“ Dieses Schuldbekenntnis stieß auf Widerstand, auf
Empörung und Abwehr, es kam für viele viel zu früh; auch wenn es, historisch
gesehen, zum richtigen Zeitpunkt kam, weil es den evangelischen Christen in
Deutschland den Zugang zur weiten Welt der Ökumene wieder öffnete, was sich für
viele als großer Segen erwies, weil in der Folge aus der Ökumene viel Hilfe kam
für unser Land. Zu früh aber kam es, weil zum wirklichen Bekenntnis der Schuld
auch die Erkenntnis der Schuld gehört, zu wirklicher Versöhnung gehört auch,
mit den Opfern zu reden, die Geschichten zu hören und zu ertragen, mit denen zu
weinen, an denen wir schuldig geworden sind. Versöhnung ist ein langer Prozess,
und schon in den 10 Geboten wird gesagt, dass Schuld und Schulderkenntnis
andauert bis ins dritte und vierte Glied. Und darum ist die Gnade, auch wenn
sie uns geschenkt wird, ein teures Gut, das unter Schmerzen erworben werden muss,
wenn es in uns zu einer guten Kraft werden soll. Und darum ist es gut und
wichtig und immer noch ein Gebot der Stunde, dass wir uns, gerade als
Generation der Spätgeborenen, immer wieder dem aussetzen, was damals geschah –
sowohl an jenem ersten Karfreitag, als auch allen anderen Taten von
menschlicher Schuld, wie sie in unbegreiflicher Weise uns vor allem in den
Vernichtungslagern der Nazis sichtbar wird, aber auch überall dort, wo
gemordet, getötet, gefoltert und verfolgt wird. Wir erinnerun uns nicht nur, um
denen Gerechtigkeit zukommen zu lassen, die damals verfolgt, verachtet,
gefoltert und gemordet worden sind. Sondern auch, um die Schuld als das Menschenmögliche
zu erkennen und zu begreifen, das keineswegs aus der Welt ist und vor dem wir
weiterhin auf der Hut sein müssen. Der erste Karfreitag war nicht der letzte
Karfreitag!. Aber Das Böse ist durch den
Karfreitag, den Karsamstag und den Ostermorgen ein für allemal entlarvt worden
als das, was es ist: Menschliche Tat. Gott will die Gewalt nicht. Er antwortet
auf das radikal Böse nicht mit noch Böserem, nicht mit Rache und Vergeltung,
sondern mit Gnade und Vergebung. Wir können das als Christen getrost, wenn auch
unter Seufzen sagen. Der Weg zur Versöhnung geht über die Erinnerung an Schuld
und Gnade. Der Karsamstag des Jahres 30 spiegelt sich im Karsamstag des Jahres
1945 und er spiegelt sich überall dort, wo unbegreiflich Böses geschieht. Es
ist Christenpflicht, und das ist das Erbe des Stuttgarter Schuldbekenntnisses,
das Böse als das zu benennen, was es ist: das Menschenmögliche. Wir können
davor nur mit Scham und Erschrecken stehen, und können nur auf die Knie gehen
und um die Vergebung bitten, die uns zugesagt ist. Die Vergebung aber können
wir uns eben nicht selber zusprechen. Sie muss, wie damals im Jahre 33, als der
Auferstandene den Jüngern und Jüngerinnen aufs neue begegnete, aus dem Mund der
Opfer kommen, und da die nicht sprechen können, aus unserem Munde, wenn wir
uns, als Christen mit Christus, und also mit allen Opfern von menschlicher
Gewalt, identifizieren, und betroffen und beschämt, aber auch mutig und
aufrichtig mit der alten Liedzeile von Paul Gerhardt sagen: „Nun, was du, Herr,
erduldet, ist alles meine Last; ich hab es selbst verschuldet, was du getragen
hast. Schau her, hier steh ich Armer, der Zorn verdienet hat. Gib mir, o mein
Erbarmer, den Anblick deiner Gnad.“ ( EG 85,4). Nur dann werden wir frei werden
und aus der Lähmung geholt und können, aus Erfahrung klug geworden, dem Bösen
Wiederstand leisten, der Versöhnung den Weg bereiten und die Erde zu einem Ort
des guten Lebens machen. Nicht nur das abgrundtiefe Böse ist das Menschenmögliche.
Auch das Gute steht in unserer Macht. Daran erinnert uns der Karfreitag eben
auch, weil wir ihn nie ohne Ostern bedenken können. Tage wie diese, an denen wir
schaudernd des abgrundtief Bösen gedenken, das in und durch unser Volk
geschehen ist, und zugleich auch des Guten, das uns wiederfahren ist, können
und wollen uns helfen, den Weg des Guten zu suchen: Gerechtigkeit, Frieden und
Bewahrung der Schöpfung. Das Stuttgarter Schuldbekenntnis kommt uns auch heute
noch – wie jedes andere Schuldbekenntnis - schwer über die Lippen, wenn man vor
konkreten Gräbern steht. Gerade wenn wir das spüren, werden wir auf unsere Verantwortung
als Christen verwiesen und bei ihr behaftet: „Aber wir klagen uns an, daß wir
nicht mutiger bekannt, nicht treuer gebetet, nicht fröhlicher geglaubt und
nicht brennender geliebt haben.“ Wir dürfen diesen Satz sagen, heute, am
Gründonnerstag 2015, weil uns am Ostertag des Jahres 33 zugesagt wurde, dass
wir mit der Schuld leben dürfen als solche, die auf Vergebung hoffen dürfen. In
diesem Geiste tiefster Humanität begehen wir den Karfreitag. Er ist der Tag der
Wahrheit.
Die Kraft der Versöhnung kommt
aus der Erinnerung, und zur Erinnerung braucht es Mut, und den Mut finden wir
im Vertrauen auf die Gnade Gottes, die will, dass wir leben. Lasst es uns
besser machen als damals, lasst uns nicht schweigen, wo wir reden müssen und
lasst nicht ab vom Gebet. Und lasst und dankbar sein gegenüber denen, die uns
gerettet haben unter Einsatz ihres Lebens. Das ist es, was uns die Toten von
damals zurufen: und weil sie tot sind, müssen wir ihr Mund sein. Indem wir die
frohe Botschaft von der Gnade Gottes verkünden, die selber das Böse auf sich
nahm, damit wir es sehen können, sind wir dieser Mund der Opfer. Das gilt für
die sinnlos Erschossenen von damals ebenso wie für unser alltäglichen
Bosheiten, die wir einander antun, das gilt für die Opfer der menschlichen
Katastrophe in den französischen Alpen ebenso wir für die Opfer unsers
Raubbaues an der Natur: Indem wir uns der Schuld stellen, können wir der Gnade
ansichtig werden. Indem wir den Opfern eine Sprache geben, könenn wir auch der
Versöhnung eine Sprache geben. Es ist vollbracht, sagte Jesus, der sich von
Gott verlassen, mit letzter Kraft. Was
er vollbracht hat, ist nicht weniger als das Heil der Welt. Im Vetrauen auf die
Kraft der Auferstehung, die das Geschehene nicht ungeschehen macht, aber zur
Versöhnung führt, können wir mit dem Bösen leben, das wir tun und das uns
wiederfährt, können wir aber auch und mehr noch,d em Bösen wiederstand leisten,
wenn es nach uns greifen will. Dafür steht der Karfreitag. Gott sei Dank, dass
er den Weg der Gnade suchte und nicht der Gewalt, der liebe, und nicht der
Rache, der Versöhnung, und nicht der Vergeltung. Reden wir vom Karfreitag, dann
tun wir, was als Kirche, als Christen, unser Auftrag ist: Lasst Euch versöhnen
mit Gott, damit ihr versöhnt werdet miteinander.
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