Sonntag, 15. März 2020

Corona


Ein stammelnder Versuch, mal etwas tiefer zu schürfen. 

Sonntag, 15. März 2020
09:14
Wo ist Gott in Zeiten der Seuche? 

Die Tatsache, dass uns die Corona-Infektion in der Passionszeit trifft, löst bei mir theologisch sehr intensive Fragen aus. Längst von mir für vergessen gehaltene theologische, oder besser gesagt: Glaubens-Fragen tauchen wieder auf. 

Sehr groß ist die Verlockung, hier Strafe am Werk zu sehen (für was auch immer) oder, was das Allerschlimmste wäre, die Seuche dafür zu instrumentalisieren, die Gottesfurcht zu wecken und in moralischen Apellen zu versinken. Und ich spüre, dass unsere kirchliche Normal-Theologie an ihre Grenzen stößt. Sehr haben wir uns eingerichtet in einer Welt, in der Leid und Not recht weit weg sind oder als (behebbare), letztlich individuelle Störung betrachtet werden.

Doch das Leid ist einfach so da. Es ist auf eine sehr radikale Art "demokratisch", es geht nicht einfach so "weg" und es macht keine Unterschiede. Gleichzeitig macht es Ungerechtigkeit, Privilegien und Asymetrie radikal erkennbar: in der Art, wie damit umgegangen wird. Wenn Du arm bist, stirbst du schneller. 

Es ist auch nicht aus der Welt. Das Kreuz Jesu ist nicht das Ende des Leides. Es ist seine Veröffentlichung. Es ist ein Signal seiner Präsenz. Die Auferstehung macht es nicht ungeschehen, sondern nimmt das Leid mithinein in Gott. Das Leiden ist in Gott präsent. Und seine Überwindung, seine Aufhebung, ist nicht eine Wirklichkeit, die erfahrbar ist. Es ist eine Botschaft.

Das Leiden ist nicht aus der Welt seit Ostern. Es ist sichtbar. Es ist sichtbar als Teil der beschädigten Schöpfung. Es gehört zur conditio humana in der gefallenen Schöpfung. Die neue Schöpfung, in der kein Leid, kein Schmerz, keine Tränen mehr sein werden, ist nicht heute. Sie ist morgen. Sie ist jenseits des Todes. Hier, jetzt, heute, diesseits des Todes ist sie Verheißung, ist sie der Horizont, vor dem wir leben können und leben müssen. 

Das Kreuz nimmt das Leiden ernst. Es heiligt es nicht. Das ist der Irrtum, der hinter dem Gedanken des Martyriums steckt. Die Vorstellung, durch Leiden etwas zu erwerben, Anrechte zu bekommen, durch Leiden privilegiert vor Gott zu sein, ist ein absurder Gedanke. Das Leid ist so präsent, dass selbst Gott sich ihm nicht einfach entziehen kann. Und auch nicht will. 

Denn die Liebe ist Hingabe. Indem Gott das Leiden sichtbar macht, indem Gott das Leiden nicht einfach beiseite schiebt, stellt er sich auf die Seite der Opfer, auf die Seite der Leidenden. Und das sind nicht allein die anderen. Das bin auch ich. Die Corona-Seuche macht sichtbar, wie dünn das Eis der Illusion ist, auf dem wir gehen, sie zerstört der Illusion, wir wären in Sicherheit und alles wäre halb so schlimm. 

Das Leiden ist nicht die große Störung unseres Glücks, sondern die Basis unseres Lebens. Es klingt fremd und fast zynisch: Das Leid ist die eigentliche Gestaltungsaufgabe unseres Lebens. Wir erkennen uns darin als Ebenbild Gottes, dass wir uns als Ebenbild des Gekreuzigten erkennen: er ist der wahre Mensch. Weniger formelhaft gesagt: im Gekreuzigten erkennen wir, wie es um uns Menschen in Wahrheit steht. Wir sind Sterbende. Aber es ist Gott, der im Gekreuzigten sichtbar wird. 

Was uns vor Sarkasmus, oder schlimmer noch: vor Zynismus bewahrt, ist, dass darin ein Funken Hoffnung sichtbar wird. Die Sterbenden sind nicht die Verlorenen. Sie sind nicht die große Ausnahme. Sie sind nicht die Aufgegebenen. Sondern sie sind die, denen Gottes Liebe besonders gilt. Die große Herausforderung, aber auch das große Geschenk des Glauben ist, dass er uns ein Bild dafür schenkt, wer wir in Wahrheit sind. 

Und die große Hoffnung für hier und heute, für unsere, wie man früher sagte, unsere "iridsche Existenz" ist, dass wir, wenn wir diesen Blick zulassen, wenn wir diesen Blick aufnehmen, wenn wir ihn, verzweifelt und mutig zugleich, teilen, dass wir dann weich werden, dass Barmherzigkeit in uns geweckt wird. Nicht durch moralische Ermahnung, nicht durch den Ruf zur Vernunft und Besonnenheit, nicht durch "don´t panic", sondern durch einen Moment des Innehaltens und der Besinnung: Ecce homo. Das bist du.

Und daraus formt sich das elementare Gebet, die elementare Klage, die elementare Bitte: kyrie eleison. Lass Tod und Vernichtung, Verlust und Vergehen nicht das letzte Wort sein. Öffne uns einen Horizont des Mutes in einer Welt voller Leid.

Die Tageslosung machte mich darauf aufmerksam. Sie spricht es aus, worum es geht.

Gott sprach zu Salomo: Weil du weder um langes Leben bittest noch um Reichtum noch um deiner Feinde Tod, sondern um Verstand, auf das Recht zu hören, siehe, so tue ich nach deinen Worten.
1. Könige 3,11-12
Trachtet zuerst nach dem Reich Gottes und nach seiner Gerechtigkeit, so wird euch das alles zufallen.
Matthäus 6,3

Nach dem Reich Gottes trachten: Das bedeutet nicht, dass wir hier Gottes Reich auf Erden bauen, wie immer so schön gesagt wird. Das scheitert immer und führt in ein Scheitern, dass den Glauben zutiefst beschädigt. 

Er baut. Für uns. Wir brauchen, um das Bild zu stressen, nur einzuziehen. Einziehen in ein Haus der Hoffnung, dessen Fundamente zwar auf der Erde stehen, dessen Wohnungen aber im Himmel liegen. Das ist kein Eskapismus. Das ist keine Flucht aus der Wirklichkeit. Es ist gerade andersherum: An der Tür zum Haus Gottes hängt das Kreuz. Daran kommen wir nicht vorbei. Unsere Energie, unser Bemühen sollte also nicht dafür verschwendet werden, religiös verbrämte utopische Wolkenkucksheime zu bauen. 

Darin ist der Glaube moderner, als die Moderne von sich selbst denkt.  Der von Gott in die Freiheit von Gott entlassene Mensch hängt nicht an Gottes Schürzenzipfel, sondern steht auf seinen Beinen. Die Perspektive kehrt sich um. Der Allmächtige Gott, das Gespenst des Aberglaubens, zeigt sich nicht als Alleskönner, sondern als Leidender, der das Leiden von innen her überwindet. 

Dafür hat die Vernunft keine Kategorien. Darin ist der Glaube unvernünftig, weil er auf der Liebe beharrt: auf reiner Zuwendung. Darin ist "Salomo" vernünftig: dass es ihm nicht um sich selbst geht. Das ist die Vernunft des Glaubens, und ich spitze zu: darin ist sie die vernünftigere Vernunft. Das bringt die Corona-Seuche ans Licht. Wer nur an sich denkt, begeht Verrat. 

Klopapier wird zum Symbol der Unvernunft. Es sei denn, ich horte es, um es gegebenenfalls an die weiterzugeben, die welches brauchen werden. Es geht um Zuwendung. Sie ist die Antwort auf das Leid.

Der Gekreuzigte braucht unsere Zuwendung, wie er sich schon als Kind in der Krippe gebraucht hat. Der Glaube lenkt den Blick nicht auf den Himmel. Er lenkt ihn auf die Erde, dort wo die Erde, die gefallene Schöpfung, am irdischsten ist. Da soll unsere Energie hinfließen. Leid mindern: das ist, was wir können. Solidarisch unter dem Kreuz stehen, wie die Frauen. Einander in der Verlassenheit annehmen, wie Johannes zum Sohn der Maria wird, als ihr Sohn stirbt. Auf Golgatha ordnet Gott uns einander zu: das Volk der Leidenden. Dahin blickt. Das Leid ist da. Es gilt, es mindern. Darum braucht es das Recht und den Verstand. Die sind jetzt gefragt. Angesichts der unveränderten Präsenz des Leides in der Schöpfung, der das Ende des Leides verheißen ist, bedeutet Liebe: Solidarität. Dafür wird Salomo gelobt. Dahin lenkt Jesus unseren Blick.

Mit Verharmlosung, mit Instrumentalisierung des Leides (als vermeintlicher Ausbruch des Zornes Gottes), mit Beschwichtigung, mit Gesundbeterei im übelsten Sinne ist uns nicht geholfen, mit moralischen Appellen auch nicht. 

Ganz im Gegenteil. Gerade der Glaube an die Auferstehung  kann uns stark machen, zu sehen, was der Fall ist: Die Schöpfung ist voller Leid, kyrie eleison. Nach dem Reich Gottes trachten: das kann für uns nur heißen: seiner Verheißung trauen und uns der Wirklichkeit stellen. Der Kelch geht nicht an uns vorüber, wie er auch an Jesus nicht vorüberging. 

Es ist ein fast unerträglicher Satz, den ich am Ende aussprechen muss: In jedem Leidenden offenbart sich Gott. Was ihr getan habt einem meiner geringsten Geschwister, das habt ihr mir getan. 

Ausgerechnet Nietzsche (oder vielleicht gerade er, der aus einem "frommen" Elternhaus stammt) spricht es sehr klar aus: Bleibt der Erde treu.

Kyrie eleision.

Amen.