Sonntag, 26. Juni 2016

Dankbarkeit. Predigt zum Stadtfestgottesdienst 50 Jahre Baunatal


Die zehn Aussätzigen

11 Und es begab sich,  als er nach Jerusalem wanderte, dass er durch Samarien und Galiläa hin zog.

12 Und als er in ein Dorf kam, begegneten ihm zehn aussätzige Männer; die standen von ferne

13 und erhoben ihre Stimme und sprachen: Jesus, lieber Meister, erbarme dich unser!

14 Und als er sie sah, sprach er zu ihnen: Geht hin und zeigt euch den Priestern! Und es geschah, als sie hingingen, da wurden sie rein.

15 Einer aber unter ihnen, als er sah, dass er gesund geworden war, kehrte er um und pries Gott mit lauter Stimme

16 und fiel nieder auf sein Angesicht zu Jesu Füßen und dankte ihm. Und das war ein Samariter.

17 Jesus aber antwortete und sprach: Sind nicht die zehn rein geworden? Wo sind aber die neun?

18 Hat sich sonst keiner gefunden, der wieder umkehrte, um Gott die Ehre zu geben, als nur dieser Fremde?

19 Und er sprach zu ihm: Steh auf, geh hin; dein Glaube hat dir geholfen!

 

Liebe Gemeinde, liebe Gäste hier auf dem Marktplatz!

 

Von der Dankbarkeit ist heute die Rede. Das bietet sich bei einem Stadtjubiläum doch sehr an! Wir können sehr dankbar sein für die Entwicklung, die die Region in den 50 Jahren genommen hat. Baunatal ist, wie es immer so schön im offiziellen Deutsch heißt, eine blühende Region. Wir können dankbar sein dafür, dass in diesen 50 Jahren eigentlich alles nur besser geworden ist. Und das sage ich mit vollem Bewusstsein auch angesichts der Tatsache, dass es natürlich immer noch etwas zu verbessern gibt – Krisen gibt es immer!

Warum ich das so ausdrücklich betone?

Mit der Dankbarkeit hat es so eine besondere Bewandtnis. Sie fällt uns durchaus schwer. Und man kann sie nicht verordnen, wie man ja auch die Freude nicht verordnen kann. Davon erzählt die Geschichte von der Heilung der 10 Aussätzigen. Sie ist ja sehr klar: 10 Leprakranke werden von Jesus gesund gemacht. Sie gehen zum Tempel, zeigen sich dem Priester, und der spricht sie gesund. Aber nur einer, noch dazu einer von den Samaritanern, die als Angehörige einer Sekte galten, kehrt zu Jesus zurück und bedankt sich. Er bekommt von Jesus freilich eine merkwürdige Antwort: Dein Glaube hat dir geholfen! Wobei hat er ihm geholfen? Gesund geworden sind doch alle! Gesund, ja, aber eben nicht geheilt!

Denn der Glaube hilft uns dankbar zu sein, und dankbar sein gehört zu einen geheilten Leben. Denn Undank zerfrisst unsere Seelen. Die einen, die zu danken vergessen, haben ein schlechtes Gewissen; die anderen, die den Dank nicht bekommen, den sie verdienen, fühlen sich gekränkt und verletzt.

Der Undank ist eine Quelle von viel Gift und Streit. Dankbarkeit aber fällt uns schwer.

Weil wir Angst haben, dass uns die Dankbarkeit verpflichtet. Wenn wir einem Menschen zu Dank verpflichtet sind, dann haben wir das Gefühl, von ihm abhängig zu sein. Und das haben wir nicht so gerne, vor allem nicht wir modernen Menschen, denen ihre Freiheit über alles geht. Aber sind wir frei, wenn wir zu danken vergessen?

Und der andere Grund, warum es uns schwer fällt, dankbar zu sein: Wir müssen uns erinnern. Dankbarkeit lebt von Erinnerung! Und zwar von einer doppelten Erinnerung: zum einen daran, wie schlecht es uns ging oder in welchen Schwierigkeiten wir waren, zum anderen aber auch an die Wohltat, die uns erwiesen wurde.

Was auch typisch ist für uns Menschen: wir erinnern uns lange -  und oft ein Leben lang  - an Verletzungen und Kränkungen, die uns zugefügt worden sind. Aber Wohltaten vergessen wir sehr schnell. Wir neigen ferner dazu, das Gute, das uns zugefügt wird, als selbstverständlich zu nehmen! Das ist kein schöner Zug an uns Menschen! Und wir alle wissen, wie sehr genau das unser Klima im Miteinander vergiften kann!

 

Ich glaube, das ist eines unser größten Probleme im Moment. Wir haben ja in Deutschland eine ziemlich angespannte Stimmung, ausgelöst durch die vielen Menschen, die bei uns Zuflucht suchen, aber die Stimmung war vorher schon gereizt. Der Grund dafür ist die Sorge, dass vieles von dem, was wir erreicht haben, nicht mehr so weiterbestehen wird, wie bisher. Diese Sicht der Dinge ist durchaus berechtigt, die Welt verändert sich unglaublich schnell – die Frage ist, ob wir uns deswegen Sorgen machen müssen, oder ob wir nicht lieber sagen müssen: Okay, alles ändert sich, wir müssen uns auch ändern, wenn wir wollen, dass es uns auch weiterhin gut geht. Das hat doch vor fünfzig Jahren in Baunatal auch geklappt! Denn das ist doch, was die Väter und Mütter damals erkannten: Wer nicht auf Kooperation setzt, geht in der modernen Welt unter! Nur gemeinsam können wir die komplizierten Aufgaben bewältigen, die uns die moderne Gesellschaft stellt: Weil wir doch ein Maximum an Gerechtigkeit haben wollen – darum ist die Welt kompliziert. Ungerechte Verhältnisse sind nämlich immer einfach! Und die einfachen Verhältnisse sind übrigens meistens auch ungerecht! Das Komplizierte ist der Preis für den Wohlstand der Vielen.

Und jetzt kommt die Erinnerung ins Spiel: Wir klagen auf sehr hohem Niveau! Es ging uns nie so gut wie heute, aufs Ganze gesehen. Immer wenn mir jemand mit der Klage im Ohr liegt, früher sei doch alles besser gewesen, dann frage ich gerne zurück: Meinen Sie die Zeit vor der Entdeckung des Penicillins und des Insulins? Meinen Sie die Zeit vor der Erfindung der Waschmaschine oder des Staubsaugers? Meinen Sie die Zeit vor Einführung der Demokratie und der Steuergerechtigkeit? Und, ganz konkret: Meinen Sie die Zeit, als hier in Baunatal noch ein paar mehr oder weniger kleine Dörfer ohne gut ausgebaute Infrastruktur existierten? Wir haben, gerade hier in Baunatal, wahrhaftig Grund zur Dankbarkeit. Es hat sich vieles verbessert, und wir leben hier auf einem Standard, von dem andere – übrigens sogar andere in Deutschland, da muss man gar nicht weit fahren – nur träumen können. Ganz zu schweigen von unseren Vorfahren, mit denen ich nicht einen Tag tauschen möchte. Man denke nur an die 70 Jahre Frieden, in denen diese 50 Jahre eingebettet sind!

Ich bin mir klar, dass jetzt bei vielen hier ein deutliches „Aber“ zu hören sein wird. Ich spüre es auch! Natürlich liegt vieles im Argen. Natürlich hat sich unser Leben nicht nur zum Besseren geändert. Ja, man wird sogar sagen müssen: Gerade, wenn wir dankbar zurückblicken auf das, was sich verbessert hat, können wir um so klarer, nüchterner und ohne Geschrei auf das schauen, was noch zu erledigen ist und was wirklich im Argen liegt – und auch trauern um das, was wir verloren haben. Denn nur so werden wir frei, auch wirklich zu feiern: Wenn wir dankbar auf das Erreichte blicken. Das ist der Quell der Freude, das Heilmittel gegen den Groll und die Lähmung.

Das kann man nicht verordnen, da kann ich hier lange predigen. Aber Dankbarkeit kann man üben. Und dazu gehört es eben auch, sich zu erinnern und zu erzählen, wie es war. Es leben noch genug Augenzeugen!

Und jetzt kommt der rätselhafte Satz ins Spiel, den Jesus zu dem einen sagt, der zurückgekommen ist. „Dein Glaube hat dir geholfen“ Wobei eigentlich? Der Glaube half dem Mann, sich dankbar zu erinnern an den Segen, den er empfangen hat.

Menschen können viel, aber Segen braucht es auch! Und den Mut, die Gelegenheit zu ergreifen, den günstigen Zeitpunkt zu nutzen und die Zeichen der Zeit zu erkennen. So, wie es hier vor 50 Jahren geschah! Sich regen bringt Segen – nicht weil es den Segen macht, sondern weil es den Segen ergreift und in unser Leben holt! Sich daran zu erinnern: das ist der Weg zu einem guten und heilsamen Miteinander.

Dazu will uns der Glauben, dazu will uns Jesus führen, indem er uns an die Dankbarkeit erinnert. Und so können wir als wir als Christen einen wichtigen Beitrag leisten zum Zusammenleben, zur Integration und zur Weiterentwicklung dieser Stadt! „Suchet der Stadt Bestes“, schreibt der Prophet Jeremia an das Volk Israel, das in einer fremden Stadt im Exil leben muss, Und Paulus schreibt: Seid der Obrigkeit untertan – ein viel missbrauchter Satz. Doch wer ist die Obrigkeit in einer Demokratie, wenn nicht das Volk selber? Wir, die Bürger und Bürgerinnen sind der Souverän, und das, meine Lieben, halte ich für den allergrößten Fortschritt überhaupt, an dessen Umsetzung wir weiterarbeiten müssen mit aller Kraft! Was ich hier sage, hat nichts zu tun mit der alten, elenden Vermischung von Thron und Alter, wie man früher sagte, sondern ist eine Ermutigung zum Bürgergeist, der Christen gut ansteht, weil wir dem Wohl des Nächsten verpflichtet sind! Wir dürfen nicht in einer Nische frömmelnder Vereinsmeirei hocken, sondern genau das tun, was wir gerade tun: raus auf den Marktplatz! Wir werden eine Minderheit: Das sollte uns gerade Ansporn sein, unseren Glauben zum Segen aller zu leben und nicht nur für uns selbst! Jesus hat alle 10 geheilt! Ohne Wenn und Aber!

50 Jahre Baunatal: Wir können dankbar sein dafür, dass sich vor 50 Jahren Menschen dafür eingesetzt haben, etwas für die Zukunft zu tun. Das war nicht leicht. In den zwei Jahren, die ich hier Pfarrer war, habe ich viele Geschichten davon gehört, wie mühsam das war. Es gab viele Ängste und Bedenken, viele Einwände und Abers, viele Verletzungen, und auch unterwegs ging es nicht ohne Enttäuschungen, Abschiede und Rückschlage voran. Doch vieles davon, und auch daraus sollten wir lernen, ist im Rückblick kaum noch nachvollziehbar und wirkt kleinlich oder ängstlich. Wir können, ganz konkret, dankbar dafür sein, dass mit dem VW-Werk hier Wohlstand und Vollbeschäftigung ankamen und damit ein ungeahnter Entwicklungsschub. Aber das doch nur, weil Menschen diese Gelegenheit, diesen Segen, ergriffen haben!

Menschen, die ja noch den Krieg und die furchtbaren Verhältnisse von Nazi-Zeit und Weimarer Republik erlebt haben, ja sogar die schiere Armut, wollten eine bessere Welt und sie schufen etwas bisher sehr Stabiles und Dauerhaftes. Das nötigt mir schon Bewunderung und auch Dankbarkeit ab, gerade weil ich nach vier Jahren hier immer noch ein Zugereister und quasi ein Fremder bin! Ich lebe gerne hier. Und ich bin übrigens auch sehr dankbar, wie gut hier mit all denen umgegangen wird, die hier nicht geboren sind: Es geht eben doch! Und zwar zum Wohle aller!

 

Und darum sage ich hier ein deutliches Danke an alle, die sich in den 50 Jahren und auch jetzt und in Zukunft für dieses Gemeinwesen einsetzen. Habt keine Angst vor Veränderungen, es hat vor 50 Jahren, allen Bedenken zum Trotz, in Baunatal doch gut geklappt! Lasst uns diesen Weg weitergehen! Lasst uns Gerechtigkeit und Gastfreundfreundschaft üben, denn dann kommen wir uns als Menschen nahe.

Lasst und aus einem Geist der Dankbarkeit und der Freude über das Erreichte kritisch, aber solidarisch und wertschätzend im Umgang miteinander weiterbauen an dem, was vor 50 Jahren begonnen wurde. Lasst den Geist der Undankbarkeit, des Genörgels und der uninformierten Rechthaberei nicht den Sieg davontragen! Unterstützt die, die bereit sind, Verantwortung zu übernehmen, begleitet sie mit kritischem Wohlwollen und Eurem Gebet! Streitet um den rechten Weg, aber zankt nicht! Und vor allem: Ermuntert einander, mitzutun! Ja, ich möchte es noch konkreter sagen mit alten Wahlspruch des amerikanischen Präsidenten John F. Kennedy, einem gläubigen Katholiken übrigens, der einmal sagte: Frage nicht, was deine Stadt für dich tun kann, frage, was Du für Deine Stadt tun kannst! Und da gibt es immer etwas. Alles zählt, was zum Gelingen beiträgt!

So beten wir Christen nicht nur heute und hier, sondern immer, wenn wir uns versammeln: Wir beten um den Segen und geben ihn weiter! Das ist unser Beitrag und unsere Aufgabe. Darum feiern wir heute und hier Gottesdienst zum Geburtstag der Stadt: Als Zeichen der Dankbarkeit, auch für lange Jahre guter Zusammenarbeit und gelingender Ökumene und gelassenem Miteinander von Glaubenden und Nichtglaubenden, von Religionen und Weltanschauungen, von Lebensstilen und Lebensformen! Und wir laden alle ein, denen Gott etwas bedeutet, wie immer sie ihn anrufen, in dieses Gebet einzustimmen, wir sind ja nicht die einzigen, die beten. Und die, denen der Glaube fremd ist, laden wir ein, in den Geist der Dankbarkeit mit einzustimmen, denn wir sind ja nun wahrhaftig nicht die Einzigen, denen die Stadt am Herzen liegt!

Dann wird dieses Fest gelingen, dann wird dieses Gemeinwesen blühen, dann werden wir Menschen in dieser Stadt einander als Menschen begegnen. Das ist immer noch das größte Glück! Dazu helfe uns Gott mit seinem Segen. Herzlichen Glückwunsch, Baunatal, Amen.